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Wahl in der Türkei Ein Kämpfer und exzellenter Redner

Am Sonntag soll die Bevölkerung in der Türkei ein neues Parlament und ein neuen Präsidenten wählen. Der Star des Wahlkampfes ist Muharrem Ince, der angetreten ist, um Recep Tayyip Erdogan abzulösen.
21.06.2018, 22:04 Uhr
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Von Frank Nordhausen und Can Öztürk

Der Hoffnungsträger kommt ohne Jackett und im Hemd mit aufgerollten Hemdsärmeln, ein Abzeichen mit der türkischen Fahne im Knopfloch. Hunderte Menschen schwenken türkische Fahnen und die Flaggen seiner sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Der Platz im Istanbuler Stadtteil Esenyurt ist so voll, dass kaum Platz bleibt für die Wasserverkäufer.

Leichtfüßig betritt der Kandidat die Bühne, winkt der Menge zu, die in laute Rufe verfällt: „Ince! Ince!“ Ihre Gesichter glühen nicht von der Sommersonne – sie glühen vor Glück. Ihr Hochgefühl gilt dem Star des Wahlkampfes in der Türkei: Muharrem Ince, 54 Jahre alt, Präsidentschaftskandidat der CHP. Dem Mann, der angetreten ist, um den Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdogan aus dem Prachtpalast in Ankara zu verjagen.

Am Sonntag sind rund 59 Millionen Einwohner der Türkei aufgerufen, ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten zu wählen. Um sie zu erreichen, absolviert Muharrem Ince ein mörderisches Programm, 102 Auftritte in 48 Tagen, von Diyarbakir im Südosten nach Edirne im Westen des Landes. Er ist ein Kämpfer und exzellenter Redner, der alle Tonarten beherrscht: Witz, Polemik, Sarkasmus, Sentiment.

Präsidialdiktatur tritt in Kraft

Mit ihm verspürt die Opposition zum ersten Mal überhaupt Rückenwind – und zwingt Erdogan, der die türkische Politik seit 16 Jahren dominiert, in den schwersten Wahlkampf seines Lebens. Dabei steht der Staatschef eigentlich auf dem Zenit seiner Macht. Der 64-Jährige hat die Opposition marginalisiert, das Militär entmachtet und die Medien weitgehend unter seine Kontrolle gebracht.

Mit der Wahl am 24. Juni tritt die Präsidialdiktatur in Kraft, die ihm eine Machtfülle verleiht, wie sie zuvor nur der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk besaß. Doch obwohl in den Städten des Landes fast nur Erdogan-Plakate und Flaggen seiner islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu sehen sind, obwohl der Staatsapparat, fast alle Medien und enorme Geldmittel ihren Wahlkampf stützen – die AKP-Mitglieder sind keinesfalls entspannt. „Früher waren sie in Wahlkämpfen optimistisch“, sagt Gareth Jenkins, in Istanbul lebender Türkei-Experte vom Schwedischen Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik, „jetzt sind sie nervös und voller Verschwörungstheorien.“

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Die Nervosität hat zwei wesentliche Gründe. Erstmals seit Erdogans Machtübernahme ist es der notorisch zerstrittenen Opposition von Mitte-Links bis Mitte-Rechts gelungen, sich zu vereinen. Vier Oppositionsparteien haben eine Wahlallianz gebildet und könnten zusammen mit der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) die Parlamentsmehrheit erobern, selbst wenn Erdogan wieder zum Präsidenten gewählt werden sollte. Niemand hätte das für möglich gehalten, am allerwenigsten wohl Erdogan selbst.

Der zweite Grund ist Muharrem Ince. Nie hätte Erdogan damit gerechnet, dass ihm ausgerechnet ein ehemaliger Physiklehrer gefährlich werden könnte. Aber Muharrem Ince ist es gelungen, den Mythos von Erdogans Unbesiegbarkeit zu demontieren. In Umfragen robbt er sich an den Titelverteidiger, der immer noch der populärste Politiker der Türkei ist, schier unaufhaltsam heran.

Während die Werte Erdogans inzwischen auf rund 39 bis 43 Prozent gefallen sind, hat Ince massiv gewonnen und steht bei etwa 30 bis 35 Prozent – Tendenz weiter steigend. Die Demoskopen sind sich einig, dass die Opposition Erdogan in eine Stichwahl am 8. Juli zwingen und Ince sein Gegner sein wird.

Der politische Killerinstinkt

Der Herausforderer, Sohn eines Kraftfahrers aus der Provinz Yalova 60 Kilometer südlich von Istanbul, schlägt den Dauerherrscher derweil mit dessen eigenen Waffen. Er kann aggressiv rhetorisch zuspitzen, hat den politischen Killerinstinkt, spricht die Sprache der kleinen Leute. Erdogans übliche Angriffe auf „säkulare, ungläubige“ CHP-Politiker verfangen bei ihm nicht, weil Ince freitags in die Moschee geht und seine Mutter wie Schwester das muslimische Kopftuch tragen.

Als die AKP Fotos publiziert, die ihn mit einem Bier während des Fastenmonats Ramadan zeigen, antwortet Ince auf Twitter: „Stimmt, ich trinke Bier, aber vorher habe ich gefastet.“ Vor allem aber profitiert er von der tiefen Sehnsucht auch vieler AKP-Anhänger nach Normalität und gesellschaftlicher Versöhnung. Er will Erdogans Präsidialdiktatur verhindern und zurück zur parlamentarischen Demokratie, will die Medienzensur beenden, die Justiz aus den Fesseln der Regierung lösen, Kredite statt an große Holdings an kleine Händler und Bauern vergeben.

„Seit 16 Jahren polarisiert und spaltet Erdogan die Gesellschaft. Ich werde genau das Gegenteil sein. Ich werde ein Präsident sein, der vereint“, sagt er. Die Türkei habe genug von einem „erschöpften Mann, der unentwegt schreit und tobt“, sagt er. Sie wolle einen „jüngeren, gelasseneren“.

War Erdogan 2001 als Populist angetreten, der die anatolischen Massen begeisterte, indem er seine niedere Herkunft betonte und sich als Kämpfer gegen das verdorbene kemalistische Establishment inszenierte, spielt Ince nun auf exakt derselben Klaviatur – nur genau andersherum. „Mein Rivale lebt in einem Palast, er ist reich, sein Geschäft ist gut.

Er trinkt (extrem teuren) weißen Tee, während ich den gleichen schwarzen Tee trinke wie Ihr“, ruft er. Dann stellt er dem Präsidenten eine wichtige Frage: „Wir haben lange Zeit das gleiche Gehalt bezogen. Wie kommt es, dass Sie so reich geworden sind, und ich bin so arm?“ „Dieb Erdogan“, skandiert die Menge. „Erdogan und die AKP kriegen den Mann einfach nicht zu fassen“, meint Türkei-Experte Jenkins. Inces Popularität steigt mit jedem Auftritt auf den Plätzen oder im Fernsehen.

Seine wichtigsten Waffen sind Offenheit, Witz und Polemik, die an den überbordenden Humor der Gezi-Proteste von 2013 gegen Erdogan erinnern. „Das ist kein Zufall“, sagt der Architekt Cem Tüzün aus Istanbul, einer der wichtigsten Köpfe der Gezi-Bewegung und selbst CHP-Mitglied. „Bei Gezi trafen sich erstmals ganz normale Leute, um einen Park und einen Lebensstil zu verteidigen. Jetzt ist eine neue Stufe erreicht: Ganz einfache Leute aus allen Schichten attackieren die Diktatur. Ince verkörpert die logische Fortsetzung von Gezi.“

Nicht in die Wiege gelegt

Wie Gezi vereine die neue Bewegung die Opposition „von unten“, sagt Tüzün. „Das gab es noch nie in der Türkei, und es ist nicht von oben verordnet.“ Der Aktivist kennt Ince aus der Parteiarbeit. „Er ist ein einfacher Mann, integer, nicht korrupt. Ein linker Kemalist, der keine Probleme hat mit Kurden und anderen Minderheiten. Ein Mann des Volkes.

Niemand hätte ihm zugetraut, was er jetzt leistet. Aber es passiert, weil er es schafft, eine tiefe Verbindung zu den einfachen Leuten aufzubauen.“ Tüzün sagt, damit repräsentiere Ince, was im Türkischen als „dip dalgasi“ – „tiefe Bewegung“ bezeichnet werde – ein historisches Momentum. „Gezi war eine solche Bewegung. Jetzt ist es der Wahlkampf. Die Wechselstimmung ist real.“

Es war Muharrem Ince nicht in die Wiege gelegt, dass er der Mann sein könnte, der den „Sultan“ womöglich vom Thron stößt. Er saß sechs Jahre im Parlament für die CHP, kandidierte zweimal vergeblich um die Parteiführung gegen den Langzeitvorsitzenden Kemal Kilicdaroglu. Sein politisches Talent blieb unentdeckt. Doch mit seiner dynamischen Kampagne und seinem Witz erreicht Ince jetzt Wähler weit über das traditionelle Spektrum der CHP, die in den letzten Jahren nie über 25 Prozent der Stimmen kam.

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Er schafft es, die Linken, die Säkularen, die Kemalisten, aber auch die Nationalisten und Religiösen anzusprechen – und sogar die Kurden, die für die CHP verloren schienen, da die Partei ihre Unterdrückung seit Jahrzehnten gerechtfertigt hat. Im Kurdengebiet drehte Ince die Stimmung, indem er den inhaftierten HDP-Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas im Gefängnis besuchte. Während Erdogan ihre Städte zerbomben ließ und ihre Politiker ins Gefängnis warf, verspricht Ince den Kurden Frieden.

„Lasst es uns klar sagen: Es gibt ein Kurden-Problem, und der Ort es zu lösen, ist nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Parlament“, ruft der CHP-Kandidat bei einer Kundgebung in der Kurdenhochburg Diyarbakir. „Kurdische Bürger müssen respektiert werden.“ Praktisch alle Meinungsforscher prognostizieren einen Sieg der Opposition, falls die HDP über die Zehn-Prozent-Hürde kommt. Stimmen die Kurden in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl für Ince, könnte dies das Ende des Systems Erdogan bedeuten.

Dagegen wirkt der Präsident plötzlich müde, uninspiriert, ausgebrannt – und krank. Wenn er nicht auf seinen Teleprompter guckt, vergisst er bei Kundgebungen, wo er sich gerade befindet oder behauptet, er habe Universitäten und Flughäfen gebaut, die es schon lange vor seiner Machtübernahme 2002 gab. Fotos halb leerer AKP-Kundgebungen kursieren auf Facebook und Twitter.

Die Sprache des Volkes

Wenn Erdogan im Fernsehen spricht, sinken neuerdings die Quoten, während jeder TV-Auftritt Inces die Aufmerksamkeitskurve nach oben schnellen lässt. „Erdogan hat kein politisches Projekt mehr, das die Massen begeistert“, meint Türkei-Forscher Jenkins. Muharrem Ince aber hat Projekte, und er spricht die Sprache des Volkes. Er baut jede Rede auf den Alltagserfahrungen der Menschen auf.

Sie wissen, dass Erdogan die „fetten Katzen“, eine bis ins Mark korrupte Schicht von neureichen Zentralanatoliern, ungeniert mit Staatsgeldern, Staatsaufträgen, Steuervorteilen mästet. Zwar verzeiht ihm die Masse seiner Wähler die Vetternwirtschaft und Korruption bis heute, weil Krumen vom gedeckten Tisch stets auch für sie abfielen.

Gerade erst ließ Erdogan allen Rentnern 1000 Lira, rund 200 Euro, als Wahlgeschenk überweisen. Doch der Präsident und seine Partei plündern die Staatskassen für diesen Wahlkampf in beispiellosem Ausmaß. „Das kann nicht mehr lange funktionieren“, sagt ein westlicher Wirtschaftsanalyst. „Die Türkei steht kurz vor einer schweren Rezession.“

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Seit jeher gilt, dass das Wahlverhalten in der Türkei vom wirtschaftlichen Wohlergehen bestimmt wird. Jetzt hakt es genau an dieser Stelle. Ich habe immer für Erdogan gestimmt, aber diesmal wähle ich die Opposition“, sagt Bahattim Yatim, Inhaber eines kleinen Baumarktes in Istanbul. „Keiner kauft mehr ein, selbst Bekannte von mir sind arbeitslos geworden.“

Die Inflation rast, hat offiziell zwölf Prozent erreicht. Die allgemeine Arbeitslosigkeit steht bei zwölf, die der Jugend bei über 20 Prozent. Die Lira, an deren Kurs zum Dollar die Türken traditionell die ökonomische Lage bewerten, büßte seit Jahresbeginn mehr als 20 Prozent an Wert ein. „Es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Türken zu unterdrückt sind, um die Realität wahrzunehmen“, sagt der Türkei-Experte Jenkins. „Erdogan hat lange ökonomisch geliefert, aber das tut er nicht mehr.“

Noch ist Erdogan der hohe Favorit. Knapp die Hälfte der Wähler war ihm bisher treu, er beherrscht den Staatsapparat und die Medien. Mit seinen militärischen Erfolgen in Syrien überzeugt er auch säkulare, nationalistische Wähler. In einer Geheimrede rief er zudem Parteimitglieder dazu auf, „mit spezieller Arbeit“ HDP-Anhänger am Wählen zu hindern.

Ein epochaler Einschnitt

„Die Furcht vor einem Wahlbetrug ist berechtigt“, sagt Gareth Jenkins. „Erdogan sieht den Machterhalt als Notwendigkeit nicht nur des politischen, sondern auch des physischen Überlebens an.“ Deshalb sind sich viele Beobachter einig, dass er eine Niederlage nicht kampflos akzeptieren und die erste Runde der Präsidentschaftswahl nur als Maßstab dafür ansehen werde, wie viel Manipulationen für den Sieg in der Stichwahl nötig sind.

Ein Sieg der geeinten Opposition aber wäre ein epochaler Einschnitt für die Türkei und hätte für Erdogan existenzielle Konsequenzen, denn er wäre durch keine Immunität mehr vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Der Stimmungswechsel ist unübersehbar – auf den Straßen, den Teestuben im ganzen Land, sogar im Fernsehen, das der Opposition inzwischen deutlich mehr Sendezeit einräumt. Erstmals seit zwei Jahrzehnten sieht es so aus, als sei Erdogan nicht mehr unbesiegbar. Wenn Muharrem Ince das sagt, branden regelmäßig Sprechchöre auf. Die Menschen rufen: „Ince Präsident!“.

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