Es steht seit bald 15 Jahren in jeder „Eingliederungsvereinbarung“, die Leistungsberechtigte mit dem Jobcenter schließen müssen: Bei Verstößen gegen dort festgelegte Pflichten kann „Hartz 4“ teilweise oder ganz wegfallen. Am Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass dies in das Grundrecht auf Gewährung des Existenzminimums eingreift und daher teilweise verfassungswidrig ist.
Zwar können die Jobcenter zum Beispiel Arbeit außerhalb des erlernten Berufs und entgegen persönlicher Berufswünsche verlangen, doch sie haben zugleich einen sozialpolitischen Schutzauftrag: Mittellosigkeit von Amts wegen darf es nicht geben. Sanktionen dürfen daher höchstens 30 Prozent der zustehenden Leistungen ausmachen, und sie dürfen nicht für einen starren Zeitraum verhängt werden. Die Leitsätze des ersten Senats lassen sich auch auf den besonders umstrittenen vollständigen Leistungsentzug bei jungen Erwachsenen übertragen. Und sie besagen: Wer zwischen der fälligen Miete und dem leeren Kühlschrank wählen muss, kann nicht eigenverantwortlich handeln.
Auch das Arbeitslosengeld II ist eine Suchhilfe, also eine Grundlage für Jobsuche und Erwerbsteilhabe. Zwar hat das Gericht ein pädagogisches Aufgabenverständnis der Arbeitsverwaltung („Fordern und Fördern“) nicht prinzipiell für verfassungswidrig erklärt. Doch Fachkräfte müssen prüfen, ob die Kürzung eine unverhältnismäßige Härte bedeuten würde, und sie müssen diese aufheben, wenn die Betroffenen ihre Mitwirkungsbereitschaft „ernsthaft und nachhaltig“ erklären.
Sanktionsparagrafen flexibler gestalten
Damit Fachkräfte ihr Ermessen rechtssicher ausüben können, werden die Jobcenter diese Vorgaben in Weisungen übersetzen. Und Bundestag und Bundesrat müssen eine der Kernregelungen des SGB II neu fassen. Wer mangelnde Arbeitsbereitschaft für ein Problem hält, kann die Sanktionsparagrafen flexibler gestalten. Aber das Verfassungsgericht hat den Trägern der Jobcenter und der Gesetzgebung auch mitgegeben: Für die Annahme, die Kürzung existenzsichernder Leistungen befördere die Arbeitsaufnahme, bedürfte es tragfähiger Belege. Dass hierzu keine Erkenntnisse der Wirkungsforschung vorliegen, kam in Karlsruhe nicht gut an.
Das Urteil bietet die Chance, noch einmal neu darüber nachzudenken, wie die Jobcenter ihren beiden Aufträge, Arbeitsförderung und Existenzsicherung, gleichermaßen gerecht werden können. Je besser die Dienstleistung, desto geringer sind die Mitwirkungsprobleme: Bei guter beruflicher Beratung und kompetenter Arbeitsvermittlung, die Türen bei Arbeitgebern öffnet, regeln sie sich fast von selbst.
Unser Gastautor ist Research Fellow am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) e.V. an der Georg-August-Universität Göttingen.