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Der 75.000. Stolperstein wird verlegt Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus

An diesem Sonntag wird in Memmingen/Allgäu der 75000. Stolperstein verlegt: Es ist das größte dezentrale Denkmal der Welt und erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus.
28.12.2019, 20:14 Uhr
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Von Ronja Ringelstein, Berlin

Seine Hände zittern, vielleicht wegen der Kälte, aber aufgeregt ist er auch. Es ist ein Freitagmorgen im Dezember, Nikolaustag. Özcan Ayanoglu steht vor einem Mikrofon auf der Straße, um ihn herum etwa 80 Leute. Vor ihnen auf dem Boden beginnt der Künstler, Pflastersteine aus dem Boden zu heben. Es ist der Moment auf den Özcan Ayanoglu, 72 Jahre alt, graue wilde Locken, Brille und Bärtchen, zwei Jahre lang hingearbeitet hat: Die Stolpersteinverlegung vor seiner Wohnung.

Der rosafarbene Altbau in der Wilhelmshöher Straße, Berlin-Friedenau, Nummer 24. Wenige Tage nach der Verlegung sitzt Özcan Ayanoglu auf der Couch in seinem Wohnzimmer und zeigt mit dem Finger an die Decke: der wunderschöne Stuck. Den hatte schon die jüdischstämmige Familie Fernbach an der Decke, als sie noch in der Wohnung lebte. „Wir sind 1978 hier eingezogen, als wir am Stuck gekratzt haben, war dort goldene Farbe zum Vorschein gekommen“, erinnert sich Ayanoglu.

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Auch der Kachelofen in der Küche ist noch von damals. 36 Jahre nachdem die Fernbachs deportiert wurden, zog Ayanoglu in die Wohnung. Nun hat er die Familie aus der Vergessenheit geholt – mithilfe von sechs goldfarbenen Steinen, jeder von ihnen steht für ein Leben. Özcan Ayanoglu sagt, es brauche „so Verrückte“, die akribisch die Geschichten der Opfer recherchieren, Verrückte wie ihn.

Dezentrales Denkmal

Der Künstler Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine seit fast 30 Jahren, zehn mal zehn Zentimeter große Betonquader mit einer Oberfläche aus graviertem Messing. Will man die Inschrift lesen, muss man sich vor ihnen verneigen. Was 1991 als illegale Aktion begann, ist heute zum größten dezentralen Denkmal der Welt geworden. Es erinnert an die Opfer der Nationalsozialisten. Eingraviert sind Namen, Geburtsjahre und Details zum jeweiligen Schicksal. In 26 Ländern liegen die Steine derzeit. An diesem Sonntag wird Nummer 75.000 verlegt, in Memmingen, Bayern.

Es sei, sagt der 72-Jährige Gunter Demnig am Telefon, ein Wettlauf gegen die Zeit. Demnig ist nicht leicht zu erreichen. Er fährt mit dem Auto jeden Tag durchs Land, manchmal ist er in drei Orten an einem Tag. Deshalb fertigt er die Steine nicht mehr selbst an. Dies macht der Berliner Bildhauer Michael Friedrichs-Friedländer. Demnig sagt, einen Tag an dem er nicht arbeite, gebe es nicht. Während des Telefonats fährt er – unterwegs zwischen Duisburg und Mönchengladbach – rechts ran. „Die meisten Angehörigen sind die Enkel der Zeitzeugen und möchten die Ehrung ihrer Vorfahren noch miterleben“, sagt er.

Prozess der Heilung

Inge Fernbach Rabe verstarb eine Woche, bevor ihr Vater Ernst Fernbach mit einem Stolperstein geehrt wurde. Sie war 95 Jahre alt und lebte in Michigan, USA. Ihre Nichten, Korie und Susan Fernbach, sind extra aus den USA angereist. „Vielleicht musste sie auf der anderen Seite sein, wenn das hier passiert“, sagt Korie Fernbach. Die 60-Jährige und ihre ältere Schwester stehen dabei, als Özcan Ayanoglu am Mikrofon eine Rede hält, und schauen Gunter Demnig zu, wie er die Stolpersteine verlegt, es ist sein dritter Termin an diesem Tag, es folgt noch ein weiterer. „Diese Menschenmenge hier. Das ist so wichtig für mich.

Das ist Heilung“, sagt Korie, Susan nickt. Vor rund drei Jahren haben sie begonnen, die Trauer um die verstorbenen Vorfahren ihrer Familie väterlicherseits zuzulassen. Sie flogen nach Berlin. „Wir standen vor dem Haus, an dieser Stelle. Doch wir haben uns nicht getraut zu klingeln“, erzählt Susan. In anderen Berliner Straßen entdeckten sie Stolpersteine und wussten: Das wollen sie auch. Doch wie?

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Die Steine erinnern an die Opfer des Holocaust. Sie sind auch eine Mahnung – und Rechten ein Dorn im Auge. 2014 hatten Neonazis Stolpersteine in Greifswald herausgerissen und sich damit gebrüstet. Vor drei Monaten versuchten in Berlin-Schöneberg Unbekannte, einen Stein herauszureißen. Die Stolpersteine starteten als „utopische Konzeptkunst“, die Gunter Demnig so erklärt: Es sei eine Utopie, dass für alle Opfer, überall auf der Welt, wo die deutsche Wehrmacht, die SS, die Gestapo, kurz die Nazis, ihre Verbrechen begingen, symbolisch Steine auftauchen. Aber jeder Stein ist ein Schritt näher dran.

Lange Recherche

Im Januar 2018 hatte Özcan Ayanoglu eine Dauerausstellung über jüdisches Leben in den 1930er-Jahren entdeckt. Auf einem Kärtchen an der Wand stand seine Adresse: Wilhelmshöher Straße 24. Zunächst fand er dort nur drei Namen – Leo, Amalie und Hans Fernbach. Daneben war „AT“ vermerkt, das heißt „Alterstransport“, und: „Deportation. Zug. Theresienstadt“, erinnert sich Ayanoglu und sagt: „So hat die Geschichte damals angefangen.“ Der Gedanke, dass eine Familie, die von den Nazis ermordet worden war, in seiner Wohnung gewohnt hatte, ließ ihn nicht los. Gemeinsam mit seiner Frau Christiane recherchierte er zwei Jahre – und setzte die Geschichte der Fernbachs aus Akten zusammen.

Er lernte die altdeutsche Schrift entschlüsseln und las: „Größe der Wohnung: fünfeinhalb Zimmer, davon vier Schlafzimmer, eine Kammer, ein Wohnzimmer, zwei WC, eins mit Bad, Ofenheizung“ – das war seine Wohnung. Über das Archiv der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem fand er mehr über die Biografien heraus. Leo und Amalie Fernbach wurden in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts geboren. Leo war Professor und bis zur Pensionierung 1924 in Berlin als Oberlehrer angestellt. Sie wohnten seit 1915 bis zur Deportation 1942 mit ihren Kindern in der Wilhelmshöher Straße.

Gunter Demnig ist drei bis vier Mal im Jahr in Berlin, verlegt dann 60 bis 80 Steine. Er als Künstler hat das Urheberrecht, doch um die Wartezeit ein wenig zu verkürzen, gibt es inzwischen auch ein freies Kontingent von 120 Steinen im Jahr, die jemand anderes verlegen kann. In Berlin macht dies ehrenamtlich ein ehemaliger Berufsschullehrer für Bautechnik.

Wichtiges Puzzleteil

Im Wohnzimmer der Ayanoglus steht ein Turm aus Büchern, die sie gelesen haben, um die damalige Zeit besser zu verstehen. Das Buch ganz oben war bei ihrer Suche ein wichtiges Puzzleteil. Auf dem Cover ist ein schwarz-weißes Passbild einer jungen Frau mit dunklen halblangen Haaren: Inge, Tochter von Ernst Fernbach. Sie hatte das Buch 2005 geschrieben. Es handelt von ihrer Kindheit in Deutschland, der Verfolgung und von ihrer Auswanderung nach Amerika. So fand Ayanoglu heraus: Es gibt Angehörige in den USA. Vor einem Jahr schrieb er einen langen Brief an Inge Fernbach Rabe. Inge litt bereits an Demenz, doch ihre Kinder meldeten sich zurück – so hörten die Nichten Korie und Susan von den Ayanoglus. Fremden Menschen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, ihrer Familie ein Stück Würde zurückzugeben. Dafür seien sie ihnen unendlich dankbar, sagen sie. Weil Inge bereits so alt war, wurde der Antrag vorgezogen und die Verlegung der Steine auf den 6. Dezember festgesetzt, auf den Todestag von Inges Vater Ernst, das war Zufall.

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Ernst Fernbach heiratete die „Arierin“ Lilly Linders und wohnte ab 1923 mit seinen Kindern in Pirna. Nach seinem Tod 1936 verbrachten seine Frau und die beiden Kinder ein halbes Jahr in der Wilhelmshöher Straße, dann zogen sie in Lillys Heimatstadt Cuxhaven. Sie überlebten dort bis 1945. Die Kinder wanderten nach Kriegsende in die USA aus. Ernsts Geschwister Ruth, Anna und Hans starben 1943 in Auschwitz, die Eltern Leo und Amalie 1942 in Theresienstadt. Inge schreibt: „Obwohl wir das Schlimmste befürchtet hatten, waren wir geschockt vom Ende von Papas Familie. Sie waren alle gute Menschen gewesen. Angesehene Bürger und Fachleute in ihren Berufen, die niemals jemanden verletzt haben.“

Özcan Ayanoglu verliest diese Passage bei der Stolpersteinverlegung. Gunter Demnig hatte ihn aufgefordert, eine Rede zu halten. So wurde es ein feierlicher Moment.

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