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Der Bremer Integrationsforscher Stefan Luft über die EU-Flüchtlingspolitik und die Überforderung der Städte „Europa muss bereit sein, zu verzichten“

In Hamburg wird gegen den Umgang mit den sogenannten Lampedusa-Flüchtlingen protestiert, und die EU will der Grenzschutzagentur Frontex mehr Kompetenzen bei der Abschiebung von Flüchtlingen einräumen. Wie muss die künftige Flüchtlingspolitik aussehen? Das fragte Silke Hellwig den Bremer Politikwissenschaftler Stefan Luft.
01.12.2013, 00:00 Uhr
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Von STEFAN LUFT

In Hamburg wird gegen den Umgang mit den sogenannten Lampedusa-Flüchtlingen protestiert, und die EU will der Grenzschutzagentur Frontex mehr Kompetenzen bei der Abschiebung von Flüchtlingen einräumen. Wie muss die künftige Flüchtlingspolitik aussehen? Das fragte Silke

Hellwig den Bremer Politikwissenschaftler

Stefan Luft.

Berlin und Hamburg sind überfordert im Umgang mit Lampedusa-Flüchtlingen. Weitere Städte können folgen. Halten Sie es für möglich, dass Europa sich mit wer weiß wie hohen Mauern gegen den Flüchtlingsstrom schützen wird?

Stefan Luft: Das kann man heute kaum einschätzen. Der Wanderungsdruck aus Afrika wird zunehmen. Die Bevölkerung dort wächst stark, Klima- und Umweltveränderungen sowie die wirtschaftliche Lage in vielen – nicht in allen – Ländern sprechen dafür. Im Osten sind Länder wie die Ukraine und Weißrussland wirtschaftlich und politisch instabil, auch hier kann der Wanderungsdruck weiter ansteigen. Entscheidend wird sein, ob es Europa gelingt, die Herkunftsregionen politisch und wirtschaftlich so zu stabilisieren, dass Migration kanalisiert werden kann und beide Seiten davon profitieren.

Aber reine Science Fiction ist die Vorstellung nicht, dass sich Europa abschotten und an den Grenzen aufrüsten wird?

Zwischen den USA und Mexiko gibt es solche Grenzanlagen. In Europa ist der Eiserne Vorhang vor 34 Jahren gefallen, für die EU sind Freiheit und Recht grundlegende Prinzipien. Die Vorstellung, durch „intelligente“ und weitgehend unsichtbare Kontrollen den Zugang zur EU lückenlos zu überwachen und mit Robotern Ankommende abzuweisen, ist damit schwer vereinbar. Migrationssteuerung wird auf Dauer nur gelingen, wenn man ernsthaft an der Verbesserung der Lebensumstände in den Herkunftsländern arbeitet.

Sehen Sie ernsthafte Anstrengungen?

Ich sehe Ansätze. Aber es muss sich noch viel mehr tun: Die Fischbestände vor den afrikanischen Küsten dürfen nicht länger geplündert werden. Subventionierte Lebensmittel aus der EU dürfen nicht länger afrikanischen Kleinbauern ihre Lebensgrundlage zerstören. Die Menschen müssen eine reelle Chance haben, in ihren Ländern ein menschenwürdiges Leben zu führen. Viele werden einfach von den Verhältnissen gezwungen, sich auf den Weg zu machen.

Aber das ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt. Man kommt nicht unbedingt zu dem Eindruck, dass diese Erkenntnisse Folgen haben . . .

Es gibt zukunftsweisende Ansätze. Gerade hat die Europäische Kommission wieder eine Tranche eines Nachbarschaftsprogramms EU-Afrika in dreistelliger Millionenhöhe freigegeben, um Mittelmeer-Anrainerstaaten auf afrikanischer Seite zu unterstützen. Aber es bedarf weitaus größerer Anstrengungen, auch um den europäischen Einfluss in Afrika zu sichern. Und: Europa müsste bereit sein, auf eigene wirtschaftliche Vorteile zu verzichten.

Und innerhalb der EU? Müssten nicht auch dreistellige Millionenbeträge nach Rumänien und Bulgarien fließen?

Rumänen und Bulgaren sind Unionsbürger, damit haben die Mitgliedsstaaten der EU kaum noch Möglichkeiten, Zuwanderung zu steuern. Wenn man die Arbeitslosen- und Sozialleistungsquoten auf Bundesebene ansieht, sind Bulgaren und Rumänen für Deutschland kein Problem. Dennoch gibt es in zahlreichen strukturschwachen deutschen Städten erhebliche Probleme, weil Armutsmigranten in einzelnen Stadtteilen unter miserablen Bedingungen leben.

Man hat den Eindruck, dass diese Städte von den Flüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien überrascht wurden. Dabei stand doch schon lange fest, wann Rumänen und Bulgaren Unionsbürger werden.

Als die Entscheidung fiel, Rumänien und Bulgarien in die EU aufzunehmen, hat man die Folgen des starken Wohlstandsgefälles offenbar unterschätzt. Zudem waren die Städte, die die Folgen verkraften müssen, an dem Entscheidungsprozess nicht beteiligt. In ihre Länder zurückschicken kann man die Menschen kaum, damit verstößt man gegen EU-Recht. Man könnte gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen. Es sieht aber nicht danach aus, als ob beispielsweise in den Bremer Behörden dafür Kapazitäten frei wären. In anderen armen Städten wird es nicht anders sein.

Und eigentlich ist dieses Land auch auf Migranten angewiesen, jedenfalls auf qualifizierte.

Das stimmt. Die EU verhält sich wie klassische Einwanderungsländer und unterscheidet zwischen „gewollten“ und „ungewollten“ Migranten. Man will jene hereinholen, die dem Land nutzen, und nicht die hineinlassen, die es ausnutzen, wie es der frühere bayerische Innenminister Günther Beckstein einmal formuliert hat. Das funktioniert aber nur begrenzt und steht natürlich in einem Konflikt mit den Menschen- und den Flüchtlingsrechten.

Obendrein gibt es politische Flüchtlinge.

Die Zahl der Asylsuchenden in der EU lag 2012 bei rund 335000, in den USA bei 44000. Das zeigt, dass das Bild von einer „Festung Europa“ nicht gerechtfertigt ist.

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