An diesem Dienstag tritt der 20. Bundestag zu seiner ersten Sitzung der zusammen. 736 Abgeordnete finden sich im Berliner Reichstagsgebäude ein, um sich ein Präsidium zu wählen und ihre Mandate anzutreten. Zuvor lauschen sie einer dreißigminütigen Rede des Alterspräsidenten.
Hätte die Union die Wahl gewonnen, wäre der Wolfgang Schäuble beides gewesen: an Dienstjahren ältester Abgeordneter und wiedergewählter Parlamentspräsident. Bekanntlich ist es anders gekommen, und Wolfgang Schäuble wird einfacher Parlamentarier. In einer Demokratie ist das nichts Schlechtes. Jedenfalls nicht in einer, die sowohl den Sieg als auch die Niederlage kennt.
Immer mal wieder wird ja gesagt, das einfache Mandat sei nichts Besonderes. Ja, manchmal verkennen selbst Abgeordnete ihre herausgehobene Stellung und die damit einhergehende Verantwortung. Während der Corona-Krise musste die interessierte Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass Mitglieder des Bundestages sich an Maskendeals bereichert haben, indem sie ihr Mandat als eine Art steuerfinanzierten Nebenjob verstanden haben. Mit ihnen befasst sich inzwischen die Justiz.
Auf die weit überwiegende Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages trifft derlei nicht zu. Die vier Jahre bis zur nächsten Wahl sind eine Herausforderung, die den ganzen Menschen, die ganze Persönlichkeit braucht.
Der 79 Jahre alte Wolfgang Schäuble ist solch eine Persönlichkeit. Für das Land, für seine Partei hat er Unglaubliches geleistet. Er hat Ministerien, das Bundeskanzleramt, das Parlament, auch seine Partei geführt. Er wurde Opfer eines Attentats und hat sich nicht in seiner Beschränkung eingerichtet. Er hat die Konsequenz aus der CDU-Spendenaffäre gezogen und war seiner Nachfolgerin Angela Merkel dennoch ein loyaler Minister.
Nicht jeder Abgeordnete des Bundestags hat eine derart reiche politische Vergangenheit wie Wolfgang Schäuble. Aber jedes Mitglied des Hohen Hauses verdient zunächst einmal Respekt. Eine Gesellschaft, die ihren gewählten Parlamentariern diesen Respekt versagt, beschneidet sich in ihrer Selbstachtung.