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Neuer Armuts- und Reichtumsbericht Regierung befürchtet wachsende Ungleichheit

Nach jahrelangem Anstieg hat sich die Armutsquote bei 16 Prozent eingependelt. Der Sozialverband Deutschland warnt vor einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich.
11.05.2021, 17:16 Uhr
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Von Hannes Koch und Joachim Heinz

Nachdem die Armut in Deutschland lange Zeit zugenommen hatte, hat sie sich mittlerweile bei 16 Prozent der Bevölkerung eingependelt. Dabei gibt es allerdings unterschiedliche Befunde zur Entwicklung seit 2014. Einigen Statistiken zufolge sinkt die Armutsquote, ein anderer Indikator weist aufwärts. Das zeigt der neue Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung an diesem Mittwoch wohl beschließen wird.

Auch was die Folgen der Corona-Krise betrifft, herrscht ein Schwebezustand. Die Regierung befürchtet, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich könnte wachsen. Dass die Schulen lange geschlossen waren und der Unterricht eingeschränkt ist, benachteiligt die Lernenden, die sowieso Probleme haben. Wegen der Geschäftsschließungen verlieren ohnehin schlecht verdienende Beschäftigte einen Teil ihres Einkommens. Doch wie sich Corona auf die Armutsquote auswirkt, ist nicht klar – für 2020 fehlen bisher die Daten.

Leichter Anstieg im vergangenen Jahr

Positiv vermerkt der Regierungsbericht, dass die Armutsrisikoquote in zwei Statistiken zurückgeht. In der europäischen Untersuchung EU-Silc ist sie 2018 unter 15 Prozent gesunken, im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) - einer jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung der Haushalte - auf 16 Prozent. Der bundesdeutsche Mikrozensus weist dagegen nach einem Rückgang 2018 für 2019 wieder einen leichten Anstieg aus. Die Armutsrisikoquote beschreibt den Anteil der Bevölkerung, der nur 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens oder weniger zur Verfügung hat.

Dass die Armut seit dem Jahr 2000 zunahm, lag unter anderem an den Hartz-Gesetzen. Die Trendwende basiert nicht zuletzt auf der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. So profitieren seit 2015 selbst die am schlechtesten verdienenden zehn Prozent der Bevölkerung von höheren Löhnen und Haushaltseinkommen.

Minister Heil plädiert für Erhöhung des Mindestlohns

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) plädierte dafür, den Mindestlohn von augenblicklich 9,50 Euro brutto pro Stunde auf 12 Euro anzuheben. Derzeit finde sozialer „Aufstieg von der Mitte nach oben“ statt, „aber nicht von unten in die Mitte.“

Einen „Corona-Zuschlag auf die Grundsicherung“ forderte Katja Kipping, die sozialpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag - außerdem eine „sanktionsfrei Mindestsicherung: Kein Erwachsener soll im Monat unter 1200 Euro fallen“.

Grüne: Hartz IV überwinden

„Armut und Ungleichheit bleiben auf einem nicht akzeptablen Niveau“, sagte Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Arbeitsmarktpolitik der Grünen. „Die Armut verfestigt sich, wer unten ist, bleibt unten.“ Er plädierte für die „Überwindung von Hartz IV durch eine Garantiesicherung, die das soziokulturelle Existenzminimum in jeder Lebenslage sicherstellt.“

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Der Sozialverband Deutschland warnte kurz vor der Vorstellung des Regierungsberichts vor einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. "Die Mitte ist geschrumpft. Die Pandemie hat bewirkt, dass Teile der Mitte der Gesellschaft gefährdet sind, in Armut abzurutschen", sagte Verbandspräsident Adolf Bauer der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). Viele Selbstständige seien nicht mehr in der Lage, ihren Lebensstandard zu halten. "Für immer mehr Menschen wird die Lage prekär, während ein anderer Teil noch reicher geworden ist", so Bauer.

Sozialverband fordert mehr Hilfen 

Er befürchtet "eine weitere Spaltung der Gesellschaft, wenn die Zahl derer wächst, die staatliche Unterstützung benötigen, und gleichzeitig auf der anderen Seite wenige einen immer größeren Anteil des Vermögens besitzen". Das werde zu Spannungen führen. "Die Regierung müsste schon jetzt Hilfen für die Zeit der Überbrückung nach der Pandemie in Aussicht stellen", forderte Bauer in der NOZ.

"Wir brauchen nach dieser Krise mehr Sozialstaat und auf keinen Fall weniger. Man wird gezwungen sein, die Steuern für Besserverdienende zu erhöhen. Vor allem Städte und Landkreise müssen besser ausgestattet werden. Sie waren schon vor Corona nicht mehr in der Lage, Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu unterhalten. Man hat den ländlichen Raum sträflich vernachlässigt und nur noch auf die städtischen Regionen geschaut. Das rächt sich nun umso mehr", meint der Präsident des Sozialverbandes.

Vorwürfe an die Bundesregierung

Der Sozialverbandspräsident wirft der Bundesregierung vor, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass ärmere Menschen stärker von der Pandemie betroffen sind. "Man hat als armer Mensch ein höheres Risiko, an Corona zu erkranken und zu sterben als ein reicher", stellte Bauer fest. "Nachdem wir jetzt die Risiken für ärmere Menschen klar vor Augen haben, muss mit Priorität in diesen Vierteln geimpft werden. Dort, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, muss mit Personal dafür gesorgt werden, dass man den Zugang zu ihnen bekommt. Wir dürfen besonders gefährdete Gruppen jetzt nicht beim Impfen benachteiligen", forderte Bauer.

Zur Sache

Die Corona-Pandemie hat nach Experteneinschätzung die Lage für Kinder und Jugendliche, die auf Unterstützung angewiesen sind, noch einmal deutlich verschlechtert. Wer in Armut oder mit einer Behinderung aufwachse, werde von den Folgen der Pandemie besonders hart getroffen, teilte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) am Dienstag mit. Die AGJ ist nach eigenen Angaben „Forum und Netzwerk bundeszentraler Zusammenschlüsse, Organisationen und Institutionen der freien und öffentlichen Jugendhilfe in Deutschland“.

„Das Fatale ist, dass die soziale Karriereleiter unten keine Sprossen hat. Wer einmal in Armut – von Hartz IV – lebt, der wird das mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent auch in den nächsten fünf Jahren noch tun“, sagte die AGJ-Vorsitzende Karin Böllert. Mit Blick auf die Situation junger Menschen mit schwerer Behinderung sprach der Verband von einer „Härtefall-Situation der Corona-Pandemie“. Ein Großteil von ihnen sei in den vergangenen Monaten von der Außenwelt quasi abgeschnitten gewesen, da unter anderem Einrichtungen und Therapieangebote geschlossen oder stark eingeschränkt waren.

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