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Kommentar zum Jahresbericht Deutsche Einheit Der Osten als herausgeputzter Sozialfall

Die Wiedervereinigung ist ein großes Glück, wer würde das ernsthaft bestreiten? Aber es ist teilweise nicht gelungen, den Ostdeutschen ein stabiles Selbstwertgefühl zu vermitteln, meint Anja Mayer.
07.07.2021, 20:21 Uhr
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Der Osten als herausgeputzter Sozialfall
Von Anja Maier

Der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz hat den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vorgestellt. Schon die Amtsbezeichnung „Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder“ gibt die inhaltliche Richtung vor. Ein Land, das dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Länder immer noch als „neu“ bezeichnet, misst mit zweierlei Maß: dort die fünf problematischen Regionen – hier der bundesrepublikanische Standard.

Es wäre ungerecht, die deutsche Wiedervereinigung als nicht gelungen zu bezeichnen. Kaum ein Ostdeutscher dürfte sich die Zeit vor 1989 tatsächlich zurückwünschen. Mangelwirtschaft, Umweltverschmutzung, Zensur, Gesinnungsschnüffelei und Verfolgung bis ins Privateste – das war die DDR. Aber das war sie nicht nur. Die Menschen hatten auch ganz normale Leben. Mit der Wiedervereinigung sind ihnen Gewissheiten abhandengekommen, die die soziale Marktwirtschaft nicht kannte. Sichere Arbeitsplätze, niedrige Mieten, Ganztagsschulen und -kindergärten.

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All das waren die DDR-Bürger bereit aufzugeben, um in Freiheit leben zu können. Bei aller Kritik darf man nämlich nicht vergessen: Die Ostdeutschen wollten unbedingt die D-Mark haben, sie wollten dazugehören. Und die Regierung Kohl hat sie ihnen gegeben. Sie musste. Eine Losung auf den Demonstrationen nach dem Mauerfall lautete: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ Das war eher eine Drohung als ein Wunsch.

Wer die Wendezeit nicht miterlebt hat, kann sich das Ausmaß der Erwartungen an den goldenen Westen nicht mehr vorstellen. Auch nicht den abrupten Wechsel zwischen Hoffnung und Ernüchterung in den Neunzigerjahren. Aus Millionen Neu-Bundesbürgern waren Millionen Arbeitslose geworden. Fabriken und Kombinate wurden geschlossen und durch die Treuhand verkauft – oft für eine symbolische D-Mark. Diese Momente der Missachtung von Lebensleistungen sind den älteren Ostdeutschen bis heute präsent und werden an den Familientischen weitererzählt.

Die Politik reagierte nach 1990 klug und planlos zugleich. Das Land hat bis bis heute geschätzte 1,2 Billionen Euro in den Aufbau Ost investiert. Wer heute aus dem Ruhrgebiet durch die Lausitz reist, fährt über neue Straßen durch wunderschön sanierte – und subventionierte – Orte, in denen oft eine überalterte Bevölkerung lebt. Der Osten als herausgeputzter Sozialfall.

Was dort fehlt, sind die großen Unternehmen, die Steuern bringen. Gemeinden, die attraktiv für Familien sind, um dort zu leben. In einigen Landstrichen Ostdeutschlands – weiß Gott nicht in allen – grassiert wieder eine ungute Ostalgie, die bis in die übernächste Generation reicht. Wer sich nach einem Leben in der Diktatur zurücksehnt, fühlt sich offenbar nicht dazugehörig. Das spielt den rechten Parteien und Bewegungen in die Karten, die die Menschen bei ihrem Unterlegenheitsgefühl abholen und schon mal Feldexperimente anstellen können, wie weit ihr gesellschaftlicher Einfluss reicht.

Es ist viel versucht worden, dem Osten auf die Beine zu helfen. Den Menschen geht es im Vergleich zu den anderen einstigen Ostblockstaaten gut. Dennoch sind viele unzufrieden. Es ist teilweise nicht gelungen, den Bürgern dort ein stabiles Selbstwertgefühl, ein Vertrauen in die Demokratie und in Europa zu vermitteln. „Kennzeichnend dafür ist eine in den neuen Ländern – im Vergleich zu den alten Ländern – durchgängig skeptischere, distanziertere und auch kritischer ausgeprägte Grundeinstellung gegenüber Politik“, heißt es im Bericht zur deutschen Einheit.

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Wirklich beunruhigend ist diese anhaltende Distanz zum eigenen Land. Wenn der Bericht resümiert, die Unterschiede zwischen Ost und West seien „durchweg gradueller und nicht substanzieller Art“, ist das eine nett gemeinte Lüge. In allen ostdeutschen Parlamenten liegt die fremdenfeindliche AfD bei über 20 Prozent, in Sachsen sogar bei 27,5 Prozent. Zum Vergleich: In Hessen hat die Partei mit 13,1 Prozent das höchste Ergebnis in Westdeutschland. Wetten, dass nach dem Tag der Bundestagswahl wieder alle besorgt gen Osten schauen werden?

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