Fragt man AfD-Wähler im Osten nach den Gründen ihrer Stimmabgabe, steht selten die Flüchtlingspolitik an erster Stelle. Es offenbart sich vielmehr ein überwiegendes Desinteresse an programmatischen Inhalten der Rechtspopulisten. Es geht vor allem um Protest, und der richtet sich latent oder offen gegen die etablierte Politik. Während die so genannten Altparteien von Globalisierung, Digitalisierung und Exportweltmeisterschaften reden, hat dies mit der Lebenswirklichkeit in weiten Teilen Ostdeutschlands nichts zu tun. Wenn nach 18 Uhr kein Bus mehr fährt, die Verwaltung 60 Kilometer entfernt ist, das Handy nur auf dem nächsten Hügel Empfang hat und die alarmierte Polizei erst nach einer halben Stunde eintrifft, dann sind dies ernsthafte Probleme, um die sich niemand zu kümmern scheint.
Als Antwort bekommen die Menschen in Ostdeutschland oftmals zu hören, sie sollten doch mit dem Rumjammern aufhören, stolz auf das Erreichte sein und bitteschön mal an den Alltag zu DDR-Zeiten zurückdenken. Dann kommen noch die Milliarden-Transfers des Westens ins Spiel, die tatsächlich zum erheblichen Teil in Form von Konsumgüterverkauf und gut ausgebildeten Arbeitskräften zurückflossen. Ostdeutsche gelten dementsprechend als undankbar und oft sogar als Bürger, die es sich in sozialen Hängematten gemütlich machen.
Tatsächlich sind die Unterschiede fast 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer gravierend: In den neuen Bundesländern wird länger als im Westen gearbeitet (+5,5 Prozent), weit geringer verdient (-22 Prozent) und in den Haushalten ist nur wenig Vermögen (-57 Prozent) vorhanden. Die Gönnerhaftigkeit und Überheblichkeit, die in vielen Politiker-Reden der Etablierten mitschwingt, ist verletzend und schlägt zunehmend in Wut um. Denn abseits der wenigen Boomregionen gehört Pendeln zum Alltag, sind Handwerker längst zu Nomaden geworden, die in Berlin oder in Westdeutschland ihre Lebensgrundlage sichern. In Land- und Forstwirtschaft, Gastronomie und Tourismus sind schlecht bezahlte Jobs die Regel.
Die meisten Chefs stammen aus dem Altbundesgebiet
Egal, wo Menschen zwischen Rügen und Erzgebirge arbeiten – die meisten Chefs, nicht nur die der West-Tochterfirmen im Osten, stammen aus dem Altbundesgebiet. Unter den Präsidenten der obersten Gerichte in den neuen Bundesländern gibt es keinen einzigen Ostdeutschen. Die Herkunft steht zwar nicht auf dem Namensschild, doch fehlende Repräsentanz wird bitter und schmerzlich wahrgenommen – in allen gesellschaftlichen Bereichen – und konterkariert ein Versprechen der Marktwirtschaft: ein Aufstieg ist möglich. Wissenschaftler geben den Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen bundesweit mit knapp zwei Prozent an – bei gut 17 Prozent Bevölkerungsanteil.
Zwei Jahrzehnte hat die SED/PDS/Linke von der strukturellen Benachteiligung der Ostdeutschen profitiert. Doch die Partei hat inzwischen an Ost-Stallgeruch verloren und zählt zu den Etablierten. Zwar stammt die Kanzlerin aus dem Osten. Doch erst in der Abenddämmerung ihrer Amtszeit zeigt sie das auch mitunter; zuvor hat sie ihre Ost-Biografie gut versteckt. Auch im Fußball gibt es mit den Leipziger Rasenballern einen hochsubventionierten Leuchtturm, der aber über die Verhältnisse hinwegtäuscht: Zweite und Dritte Liga sind heute das Spielfeld der Ex-DDR-Oberliga-Vereine. Dies spiegelt das Gefühl vieler Ostdeutscher: Man kann sich strecken, aber kommt nicht hoch.
Deutschlands Osten droht, wie der östliche Teil Polens und der Süden Italiens, dauerhaft den Anschluss zu verlieren. Der Aufholprozess stagniert seit über einem Jahrzehnt. Und die Abwanderung der Hochqualifizierten hält an. Wer in der Vergangenheit zurückblieb, war zu alt oder zu unbeweglich für einen Neubeginn. So sind geschlossene Milieus entstanden, in denen nationalistische Ansichten leicht Fuß fassen. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich ist nicht jeder vierte Ostdeutsche, der bei der letzten Bundestagswahl der AfD seine Stimme gab, ein Rechtsextremer.
Aber dass Demokraten erschreckt bis panisch reagieren, wenn führende AfD-Politiker offen rassistisch auftreten, bestätigt Protestwähler nur: Endlich wachen sie auf. Jetzt wird in den etablierten Parteien die Lage deutlicher wahrgenommen und ernsthaft diskutiert, im Osten Bundesbehörden anzusiedeln, eine Ost-Quote bei Führungspositionen und neue Förderungen einzuführen. Das ist wohlfeil, hat aber gleich zwei Schönheitsfehler. Zum einen wirkt es wie Taktik, stehen doch drei Wahlen im Osten an, zum anderen kommt die Debatte viel zu spät.