Mehr als 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Eine große Rolle spielt dabei der Krieg in der Ukraine, aber dem Internal Displacement Monitoring Center zufolge flieht die Mehrheit wegen Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen. Lässt sich historisch belegen, dass sich Menschen in unsicheren Zeiten schneller entscheiden, ihre Heimat zu verlassen?
Simone Blaschka: In Kriegszeit entscheiden Menschen oft sehr schnell über Gehen oder Bleiben. In wirtschaftlichen Krisenzeiten gibt es immer einen zeitlichen Versatz. Nimmt man beispielsweise die Missernten in den 1840er-Jahren in Deutschland, dann ist festzustellen, dass die Kleinbauern erst ein paar Jahre später begonnen haben, in großer Zahl auszuwandern. Erst, als sie merkten, es wird nicht besser, es gibt keine andere Chance. Im Moment kann man einen solchen stetigen, aber schleichenden Prozess in großem Ausmaß durch die zunehmende Wüstenbildung im nördlichen Afrika sehen, der zu Verarmung und Verelendung führt. Im Allgemeinen gilt: Die Entscheidung, zu gehen, trifft nur eine Minderheit. Die meisten bleiben. Was bei den Folgen von Migration auch oft vergessen wird: Die Ausgewanderten sorgten und sorgen dafür, dass die, die bleiben, es einfacher haben.
Inwieweit muss man zwischen den Begriffen Auswanderung, Flucht, Migration unterscheiden?
Migration ist der Überbegriff für alle Formen. Auswanderung und Flucht sind Migrationen, ebenso gibt es Migration aufgrund von Arbeit oder Vertreibung. Zu sagen, das ist ein Auswanderer oder eine Geflüchtete, sind Differenzierungen.
Im deutschen Sprachgebrauch wird Migration noch häufig in einem eher negativen Zusammenhang verwendet, oder täuscht dieser Eindruck?
Aus der fachlichen Perspektive ist Migration eine völlig neutrale Bezeichnung. Aber wenn man aus den akademischen Kreisen heraustritt, ist das auch meine Wahrnehmung. Es liegt mit daran, dass ganz lange unklar war, wie sich Deutschland definiert. Migration wurde immer als etwas gesehen, das nicht zu Deutschland gehört. Das hat sich dann auch auf die Begrifflichkeiten niedergeschlagen. In anderen klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada, Australien oder Argentinien gehört Migration bereits bei der Staatsgründung zur staatlichen Identität, dort ist das Wort ein normaler Begriff. In Deutschland wird oft noch unterschieden: Deutsche waren Auswanderinnen und Auswanderer, und die, die herkommen, sind Migranten. Das spiegelt eine Form von Diskriminierung, wenn nicht Rassismus, wider, mit dem sich die deutsche Gesellschaft nun hoffentlich mehr und mehr auseinandersetzt. Hier im Museum versuchen wir, deutlich zu machen, dass Aus- und Einwanderung zwei Seiten einer Medaille sind: Alle Ausgewanderten wurden und werden irgendwann zu Eingewanderten.
Sie haben vor einiger Zeit in einem „Spiegel“-Interview gesagt, dass Besucher Ihres Museums die Auswanderungsgeschichte unkritisch, die Einwanderungsgeschichte aber oft kritisch beurteilen. Was wird da angemerkt?
Die Leistungen der ausgewanderten Deutschen werden überproportional als herausragend beurteilt. Wenn jemand im 18. oder 19. Jahrhundert nach New York gegangen ist und dort beispielsweise ein Lebensmittelgeschäft hatte oder irgendwo auf dem Land eine Farm, ist das für viele etwas wahnsinnig Positives. Wenn jemand aus der Türkei in den 50er-, 60er-, oder 70er-Jahren hierhergekommen ist und seine Arbeit geleistet hat, wird das nicht genauso betrachtet. Aber ob es der von deutschen Einwanderern in New York etablierte deutsche Kartoffelsalat ist oder dass wir gerne das Gemüse im türkischen Lebensmittelladen kaufen: Die Eingewanderten haben in beiden Fällen etwas mitgebracht in die Gesellschaft. Was mich zum Beispiel immer ärgert, ist der Begriff „deutsches Wirtschaftswunder“. Das haben die Deutschen nicht alleine auf die Beine gestellt, daran waren auch Millionen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter beteiligt. Und auch die Entscheidungsprozesse, die bei den Deutschen zur Auswanderung geführt haben, werden romantisiert.
Inwiefern?
Es geht um das Narrativ, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Werte, die in Europa seit der Aufklärung als etwas Gutes gelten, werden den deutschen Ausgewanderten zugestanden. Wenn wir bei dem Beispiel des aus der Türkei Ausgewanderten bleiben: Der macht genau dasselbe. Das wird aber nicht so positiv konnotiert wie bei den Deutschen. Übrigens gab es zum Beispiel in den USA große Schwankungen in der Wahrnehmung der Eingewanderten. Es war ebenfalls mitnichten so, dass sich Deutsche sang- und klanglos in die amerikanische Gesellschaft integriert hätten. Man wird also auch den deutschen Ausgewanderten gar nicht gerecht, wenn man das idealisiert, denn so einfach war es für sie nicht.

Im Deutschen Auswandererhaus gibt es seit Juni 2021 auch einen Ausstellungsteil zur Geschichte von Deutschland als Einwanderungsland.
Kann man sagen, dass sich die Beweggründe für Auswanderung über die Jahrhunderte hinweg gar nicht so sehr verändert haben?
Ja, wenn wir aktuelle Kriege und Katastrophen außen vor lassen. Alleine im 19. Jahrhundert sind 5,5 Millionen Deutsche ausgewandert. Ihr Hauptgrund war, für sich eine andere, bessere wirtschaftliche Situation zu schaffen. Nichts anderes gilt für die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Was auch damals wie heute gilt: Menschen, die ihre Heimat verlassen, siedeln häufig dort, wo sie schon Bekannte und Bekanntes vorfinden. Es gibt Untersuchungen auch für Deutschland, dass genau das langfristig auch positive Effekte haben kann. Durch soziale Netzwerke, die Menschen bereits haben oder knüpfen, wenn sie ankommen, lernen sie schnell, wie Dinge funktionieren. Ob das früher die Little Germanys in Cincinnati oder in New York waren oder jetzt hier in Deutschland die vielen verschiedenen Communities in den Großstädten sind. Wichtig ist, dass die Gesellschaft, in die man geht, Chancen offeriert, die man natürlich auch wahrnehmen und erkennen muss. Die Frage ist dabei immer auch, wie und was die Politik gestaltet und wo sie nicht eingreift.
Sie meinen, weil die Konzentration von Eingewanderten auf ihre Gemeinschaften auch problematisch sein kann?
In den 90er-Jahren wurden die sogenannten Russlanddeutschen sehr zentriert in den Städten untergebracht und man hat schnell gemerkt, dass das nicht die beste Idee war. Auf der anderen Seite kann man schnell die Vorteile des sozialen Netzes zerstören. Insgesamt ist das politisch eine Herausforderung, die man in der Geschichte jedes Einwanderungslandes sehen kann. Wir haben noch Nachholbedarf, Migration für uns als Normalität zu begreifen. Ich zum Beispiel bin hauptsächlich in den 1980er-Jahren zur Schule gegangen und hatte weder Aus- noch Einwanderung als Thema im Geschichtsunterricht.
Ist das heute anders?
Ja, da wächst eine ganz andere Generation heran. Im Land Bremen steht im nächsten Schuljahr das Thema Arbeitsmigration im Lehrplan, am Beispiel von Gastarbeitern. Als Schülerin entwickle ich so ein ganz anderes Geschichtsbild. Auch an den Universitäten laufen sehr viele Forschungsprojekte zum Thema Migration.
Die Gastarbeiter sind freiwillig nach Deutschland gekommen. Das ist bei den Menschen aus der Ukraine anders. Kann man bei ihnen schon von Migration sprechen?
Es ist eine Migrationsbewegung vor allem von Frauen, Kinder und älteren Menschen. Viele wollen so schnell es geht zurück, weil die Ehemänner und Partner noch im Land sind. Sie sind in Deutschland in einer Art Warteposition und versuchen, ihr altes Leben aufrecht zu erhalten. Im Museum sehen wir das gerade am Beispiel von zwei im Februar 2022 geflohenen Akademikerinnen, mit denen wir ein Projekt über den Krieg realisieren. Wenn der Ausnahmezustand aber über Jahre anhält, wird sich die Situation ändern. Zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien wurde auch gesagt, dass vor allem die gut ausgebildeten Menschen wieder zurückgehen würden, was aus verschiedenen Gründen nicht eingetreten ist.
Stichwort Fachkräftemangel: Kann Deutschland von einer Situation wie in der Ukraine, so schlimm sie ist, auch profitieren?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich habe gelesen, dass Firmen zur Grenze gefahren sind, um gut ausgebildete neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Natürlich muss man helfen, aber die Frage ist: Was passiert in dem Moment, in dem der Krieg vorbei ist? Fehlen der Ukraine dann die gut ausgebildeten jungen und älteren Menschen beim Wiederaufbau des Landes?
Geht mit globaler Migration insgesamt ein Verdrängungswettbewerb um Arbeitskräfte einher?
Sicherlich. Die Rollen, die auch die Wirtschaftsnationen dabei spielen, sind zum Teil brutal für die Menschen, denn oft geht es ja darum, billigere Arbeitskräfte zu gewinnen. Bei den Lastwagenfahrern ist das zu beobachten gewesen: Sie kamen vielfach aus Polen, nachdem für polnische Lastwagenfahrer die Löhne stiegen, wurden Fahrer aus Ländern außerhalb der EU von den Speditionen angeworben.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Lehren, die man aus der Migration der Vergangenheit für die Zukunft lernen kann?
Einerseits muss man sich bewusst machen, dass es sich sowohl bei Ein- als auch Auswanderung um Prozesse handelt. Wir reden über oft ein bis drei Generationen, die direkt oder indirekt mit den Migrationsentscheidungen zu tun haben. Das bedeutet auch für Einwanderungsgesellschaften, dass sie in Migrationsfragen in langen Zeiträumen denken müssen: Ganz konkret betrifft das den Arbeitsmarkt, das Bildungssystem, den Wohnungsmarkt, aber auch Fragen nach Gerechtigkeit und Gleichstellung. Aus den beiden letzten Punkten ergibt sich: Es ist sehr wichtig, die Perspektive derjenigen einzunehmen, die wandern. Diese Perspektiven mit anderen Ländern oder Epochen zu vergleichen, ist sehr wertvoll. Wenn man auf die Einwanderungsgeschichte nach Deutschland schaut und auf die Einwanderungsgeschichte in die USA, gibt es viele Parallelen, aber eben auch viele Unterschiede.