Otto Wulff freut sich über den Anruf. Der Bundesvorsitzende der Senioren-Union geht zu Hause in Iserlohn an den Apparat, mit 88 Jahren passt er gut auf seine Gesundheit auf. Erst recht in Zeiten wie diesen. Vor knapp zwei Wochen hat Wulff seine zweite Covid-19-Impfung erhalten, und ja, er findet, dass für Menschen wie ihn Grundrechte nicht länger eingeschränkt bleiben sollten. Wulff spricht zugleich für die 54.000 Mitglieder der Senioren-Union, allesamt Menschen im höheren Lebensalter. „Wenn Geimpfte nachweislich keine Gefahrenquelle darstellen und selbst geschützt sind, dann sollte man sie anders behandeln. Die tun ja keinem was“, sagt er. Dass man sich dennoch rücksichtsvoll gegenüber seinen Mitmenschen verhalte, das gebiete schon der gesunde Menschenverstand. „Respice finem – Bedenke das Ende, wie wir Lateiner sagen.“ Otto Wulff lacht.
Um das Ende der Pandemie zu bedenken, haben sich am Montag Kanzleramt und Länderchefs verabredet. Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen wollten über das Verfahren zur Erstellung einer Rechtsordnung diskutieren – vom Ergebnis hängt davon wiederum die Verabschiedung einer entsprechenden Verordnung im Kabinett ab. Angesichts von 24 Prozent erstmals und gut sieben Prozent vollständig Geimpfter müssen die gesellschaftlichen Spielregeln neu festgelegt werden. Wenn also mehr als jeder fünfte Bürger mindestens einmal geimpft ist – im Laufe des Monats Mai soll es schon jeder Dritte sein –, steht die Frage im Raum, ob diesen Menschen Lockerungen gewährt werden können und müssen.
Konferenz war nach weniger als drei Stunden beendet
In vor dem Treffen verschickten Eckpunkte-Papieren war von Ausnahmen von den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für vollständig Geimpfte die Rede. Menschen, die für sich und andere keine Gefahr darstellen, sollten demnach wieder reisen, einkaufen oder essen gehen können. Für jene, die lediglich negativ getestet sind, würde das jedoch nicht gelten. Das sorgt für Missstimmung unter den Bürgerinnen und Bürgern. Impfwillige, die keinen entsprechenden Termin bekommen, sehen sich ungerecht behandelt. Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, wittern Ungleichbehandlung. Und Bürger, die geimpft wurden oder nach einer Covid-Infektion nicht mehr ansteckend sind, fordern zurück, was ihnen zusteht: ihre Grundrechte.
Anders als in den zurückliegenden Monaten, war die Konferenz am Montag nach weniger als drei Stunden beendet. Und ebenfalls anders als zuletzt war die Stimmung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) geradezu gelöst. Es sei eine „Ministerpräsidentenkonferenz der Hoffnung“ gewesen, sagte Merkel. „Aber wir dürfen die Gegenwart nicht vergessen.“
Und diese Gegenwart soll folgendermaßen aussehen: Auf die Corona-Geimpften und -Genesenen kommen kleinere Erleichterungen im Alltag zu: Die Betroffenen sollen etwa beim Einkaufen oder beim Friseurbesuch keinen negativen Corona-Tests mehr vorlegen müssen. Auch die Pflichtquarantäne nach der Einreise aus dem Ausland soll für sie dann wegfallen. Die Priorisierung beim Impfen solle „spätestens“ im Juni aufgehoben werden, dann sollen auch die Betriebsärzte mithelfen.
Das Ende der Priorisierung nach Alter, Beruf oder Vorerkrankung bedeute aber „nicht, dass dann jeder sofort geimpft werden kann“, fügte Merkel hinzu. „Aber dann kann sich jeder um einen Impftermin bemühen, und die werden dann nach Maßgabe der Versorgung auch gegeben.“ Die Bundesregierung halte an ihrer Zusage fest, bis Ende des Sommers jedem Impfwilligen ein Impfangebot machen zu können. Merkel kündigte an, dass ihre Regierung nun die entsprechende Rechtsverordnung auf den Weg bringen werde, in welcher der Umgang mit Geimpften und Genesenen geregelt wird. Im Alltag würden sich diese Erleichterungen so auswirken, dass „da, wo Schnelltests erwartet werden, Geimpfte und Genesene diese Tests nicht beibringen müssen“, sagte die Kanzlerin. Sie mahnte, dass das Land mit zunehmender Zahl Geimpfter „in eine Übergangsphase kommt, die nicht einfach wird“.
Die Bremer Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) sieht mögliche Öffnungen durchaus kritisch. „Erst wenn die Inzidenzen dauerhaft niedrig sind, kann über testgestützte Öffnungen nachgedacht werden. Das schafft Perspektive und Akzeptanz“, sagt sie dem WESER-KURIER. Bremen etwa könne stolz darauf sein, so erfolgreich zu impfen, findet die Ärztin und Obfrau im Gesundheitsausschuss des Bundestages. „Eine Aufhebung der Priorisierung kann erst erfolgen, wenn genügend Impfstoff zur Verfügung steht. Es ist notwendig die Menschen, die ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben, weiterhin prioritär zu impfen.“
Kappert-Gonther setzt bei der Impfpriorisierung auf die Kompetenz der Hausärztinnen und Hausärzte. Diese könnten gut einschätzen, wer in ihren Praxen bevorzugt geimpft werden sollte. „Negativ Getestete, zweifach Geimpfte und Genesene sollten gleich gestellt werden“, findet sie. „Dafür ist es notwendig fälschungssichere digitale Immunitätsnachweise zu schaffen. Bis auf Weiteres bleibt es aber für alle notwendig, in der Öffentlichkeit Abstand zu halten und Maske zu tragen.“