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Kommentar zu Annalena Baerbock Ausgezählt wird zum Schluss

Die Grünen stehen zu Annalena Baerbock wie eine Eins. Das beantwortet nicht die Frage, wie sehr ihre Glaubwürdigkeit außerhalb der Partei gelitten hat. Die Wähler werden das entscheiden, meint Silke Hellwig.
13.06.2021, 05:00 Uhr
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Ausgezählt wird zum Schluss
Von Silke Hellwig

Was ein Wechselbad der Gefühle ist, wird Annalena Baerbock vermutlich exakt beschreiben können. Mitte April sorgte ihre Nominierung als Kanzlerkandidatin durch den Bundesvorstand der Grünen für ein sensationelles Umfragehoch: Wäre die Wahl vorgezogen worden und hätten sich Wählerinnen und Wähler verhalten wie Demoskopen vermuten, hätten die Grünen als stärkste Kraft die Regierungsbildung in die Hand nehmen können.

Fotos zeigen Annalena Baerbock in dieser Zeit vor einer Fotowand der Grünen mit der Aufschrift „Alles ist möglich“, und die „Frankfurter Rundschau“ lässt Experten zu Wort kommen, die bereits vor einem Absturz warnen, vor dem „Schulz-Effekt“. Indes konnte niemand so recht erklären, warum Martin Schulz, SPD-Spitzenkandidat 2017, vom Hoffnungsträger zum Wahlverlierer werden konnte. Vermutlich, heißt es heute, weil von ihm ein Bild gezeichnet worden ist als Lichtgestalt und Retter der Sozialdemokratie, dem er nicht gerecht werden konnte. Da ist sicher etwas dran, allerdings ist nicht bekannt, dass er sich gegen das Hochjubeln gesträubt hätte.

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Was Annelena Baerbocks Absturz in den Umfragewerten verursacht hat, ist bekannt: Erst das „blöde Versäumnis“ (Originalton Baerbock), Nebeneinkünfte rechtzeitig an die Bundestagsverwaltung zu melden. Zudem der aufgehübschte Lebenslauf, in dem Angaben ziemlich grob zusammengefasst worden sind. Die „taz“ schreibt unter dem Titel „Generation Selbstoptimierung“, ihre „frisierte Vita zeigt ein karriereorientiertes Verständnis von Lebensläufen“. Das macht es nur nicht besser.

Alles ist möglich, in der Tat. Es ist möglich, innerhalb von fünf Wochen von der Überfliegerin zu einem gewissen Wahlrisiko zu werden. Es ist möglich, innerhalb von wenigen Wochen zwei Mal durch Verfehlungen auf sich aufmerksam zu machen und daraus keine Konsequenzen zu ziehen. Bettina Gaus hat im „Spiegel“ unter der Überschrift „Das war’s“ dafür plädiert, Baerbock sollte ihrem Kollegen Robert Habeck Bühne und Kandidatur überlassen. Das steht nicht zur Debatte – am Samstag wurde sie während des Parteitags von 98,5 Prozent der beinahe 700 Delegierten als Spitzenfrau der Grünen und Kanzlerkandidatin bestätigt.

Wer sich zweimal entschuldigen muss, dem glaubt man nicht ... oder nicht mehr so ganz – zumal, wenn seine Partei nicht müde wird, von anderen Wahrheit und Klarheit einzufordern. Darüber stolperte 2014 auch Alice Schwarzer, die Kapitalerträge auf einem Konto in der Schweiz dem Finanzamt verschwieg, bis sie sich selbst anzeigte. Spott, Häme und Gehässigkeit traf sie unbarmherziger als den Steuerhinterzieher Uli Hoeneß, schließlich galt Schwarzer als moralische Instanz.

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Politikerinnen und Politiker sind auch nur Menschen, so fehlerhaft, so eitel und so schwach wie jede und jeder andere auch. Kann deshalb Franziska Giffey, die ihren Doktorgrad der „Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung“ verdankte, daran festhalten, den Regierenden Bürgermeister Michael Müller in Berlin beerben zu wollen? Sind Baerbocks Versäumnisse nur allzu menschlich und mit einer Entschuldigung vom Tisch gewischt? Was wäre, wenn Ähnliches von Markus Söder oder Christian Lindner bekannt geworden wäre? Wie großmütig und verständnisvoll wären die Grünen damit umgegangen – im Wahlkampf?

Ausgezählt wird zum Schluss, nach der Wahl: Es liegt nicht im Ermessen von Politikern oder Journalisten, wie schwer die Glaubwürdigkeit der Kanzlerkandidatin und der ehemaligen Familienministerin gelitten hat. Wählerinnen und Wähler werden beurteilen, ob die Vorfälle für herausragende Ämter disqualifizieren oder ob andere Fähigkeiten ausschlaggebend sind.

Die Grünen stehen wie eine Eins zu Annalena Baerbock. Dabei können Parteien auch anders, wie die Fälle Boris Palmer und Sahra Wagenknecht zeigen. Beide richten in ihren Parteien nach Meinung mancher Mitglieder so großen Schaden an, dass man sie am liebsten los wäre. Ihre Verfehlungen klingen harmlos und wiegen doch schwer: zur Schau gestellte politische Eigenwilligkeit und scharfe innerparteiliche Kritik. Allerdings haben sie sich auch nicht entschuldigt.

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