Es handelte sich um die sogenannte Deutsche Rede. Sie begann so: "Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise (...) War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder? Das muss lange her sein. Wunder gibt es heute anderswo."
Diese Worte stammen von dem namhaften, auch umstrittenen Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn. Er hielt sie als Präsident des Ifo-Instituts, vor fast 20 Jahren. Mit kleinen Änderungen könnte Sinn sie in Teilen heute problemlos noch einmal halten. "Der Tanz auf dem Vulkan geht aber weiter. Beim Tourismus bleiben die Deutschen Weltmeister, und ihre Kreuzfahrtschiffe durchpflügen die Ozeane trotziger denn je. Das Rentensystem wird verteidigt, obwohl Kinder, die es finanzieren könnten, fehlen (...) Die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose."

Dass der Strom nicht einfach aus der Steckdose kommt, dürfte den meisten Bundesbürgern in den vergangenen Wochen indes klarer denn je geworden sein. Nicht von ungefähr wird Undenkbares denkbar, wie längere Laufzeiten von Atomkraftwerken. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Grünen sich dazu durchringen, wächst mit jeder verschickten Stromrechnung. Deutschland ist auch nicht "der kranke Mann Europas", Europa selbst ist schwer erkrankt, verwundet in der Ukraine. Heilung ist nicht in Sicht. Die Behandlung hat nicht einmal angefangen. Wie schwarz wird der Winter, nicht nur, was die gedimmte Beleuchtung betrifft?
Johannes Pennekamp kommentiert in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Die Lage ist also ernst, aber sie ist längst nicht so aussichtslos, wie sie mancher nun darstellt". Er verweist auf den intakten Arbeitsmarkt. Nicht unter Massenarbeitslosigkeit leidet das Land, sondern unter Fachkräftemangel – allerdings gibt es darauf bislang keine ausreichende Antwort aus der Politik.
Händler oder Gastronomen, Hoteliers oder Handwerker, die sich womöglich gerade von den Folgen der Pandemie erholt haben und voller Sorge auf die Folgen der Energiekrise schauen, mussten zwischen den beiden Krisen ihre Öffnungszeiten oder Arbeitszeiten reduzieren. Aufgrund der dritten Krise, weil Personal fehlt – ein Mangel, der nicht wie über Nacht über das Land kam, sondern sich wörtlich zusehends gebildet hat. Die Klimakrise beängstigt obendrein im Hintergrund, doch der geistige Verdauungsapparat für schlechte Nachrichten ist endlich.
"Die Mittelschicht (…) ist entgegen allen Unkenrufen seit fast zwanzig Jahren sehr stabil. Das ist ein echtes Pfund, das die Bundesregierung schützen muss. Die Erfahrung zeigt, dass der soziale Frieden vor allem dann bedroht ist, wenn die Mittelschicht absteigt", formuliert Pennekamp. Doch Verunsicherung und finanzielle Sorgen fressen sich in die Mittelschicht. Das liegt nicht zuletzt an dem Bild, das die Regierung derzeit abgibt: SPD, FDP und Grüne, die Anfang des Jahres selbstbewusst in ihre „Fortschrittskoalition“ starteten, haben – wie Hans-Werner Sinn sich ausdrückte – Mut und Fortune innerhalb weniger Monate verloren. Die Repräsentanten wirken orientierungslos und wankelmütig. Die Verhandlungen über das dritte Entlastungspaket lassen beherztes Krisenmanagement vermissen.
Zu dritt regiert es sich zweifellos nicht leicht, aber wenn tiefe Krisen nicht zu Kompromissen und zügigen Entscheidungen bringen und zwingen – was dann? Welche Fortschritte sollen gemacht werden, wie will man zueinanderfinden, wenn Bevölkerung, Experten und Opposition weniger Druck machen – und keine Landtagswahl in einem großen Flächenland bevorsteht?
Auf große Fortschritte wird das Land vermutlich weiter warten müssen. Das liegt allerdings auch an der Wählerschaft. Sie ist anspruchsvoll. Die Erfahrung lehrt, dass diejenigen, die lautstark Reformen einfordern, Regierungen dafür auch gerne abstrafen. Wasch mich, aber mach mich nicht nass – schon gar nicht, wenn das Wasser kalt bleiben muss.