Es ist ein Angriff auf die schwarz-rote Bundesregierung und auf die eigene Parteiführung rund um Vizekanzler Lars Klingbeil: Prominente SPD-Politiker fordern in einem „Manifest“ eine Abkehr von der Aufrüstungspolitik und direkte diplomatische Gespräche mit Russland. In ihrem Grundsatzpapier dringen die sogenannten SPD-Friedenskreise auf eine Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Von einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung sei Europa aktuell weit entfernt, beklagen sie und werben für Deeskalation und schrittweise Vertrauensbildung statt Rüstungswettlauf.
Unterzeichnet ist das Papier unter anderem von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans, Außenpolitiker Ralf Stegner sowie einzelnen Bundestags- sowie Landtagsabgeordneten. Aus Bremen haben bisher der ehemalige Bürgermeister Carsten Sieling sowie die Bürgerschaftsabgeordneten Arno Gottschalk und Renate Meyer-Braun (Ex-Mitglied des SPD-Landesvorstands) unterzeichnet.
Brisant wird das "Manifest" auch durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung: Vor dem Parteitag Ende des Monats dürfte es für Unruhe in der SPD sorgen. Dann wollen die Sozialdemokraten nicht nur ihre Spitze neu wählen, sondern auch den Prozess für ein neues Parteiprogramm beginnen. Kurz zuvor steht der Nato-Gipfel an, bei dem es um eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben gehen wird.
Die Unterzeichner fordern, „nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa“. Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen sei bereits eine behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte nötig. "Der Krieg kann so nicht gewonnen werden", sagte Außenpolitiker Ralf Stegner, der im April noch mit einer Reise ins aserbaidschanische Baku, auf der er unter anderem zusammen mit dem ehemaligen CDU-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla mit russischen Politikern sprach, für Aufsehen sorgte.
Dass der russische Präsident Wladimir Putin bisher kein Interesse an einem solchen Waffenstillstand zeigt, wird von den Unterzeichnern nicht erwähnt. Auch das folgenlose Telefonat des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz im November mit Putin nicht. Oder dass dieser zuletzt immer wieder zeigte, wie wenig er von diplomatischen Vermittlungsversuchen unter anderem von US-Präsident Donald Trump hält, findet in dem Papier keine Erwähnung.
Die SPD-Friedenskreise wenden sich zudem gegen eine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland und gegen die Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie beklagen, aktuell werde ein „Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg“ beschworen, statt Verteidigungsfähigkeit mit Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen.
Dass das „Manifest“ nicht die Haltung der gesamten SPD widerspiegelt, zeigen die durchaus harschen Reaktionen aus der Partei. „Irritiert und verärgert“, zeigte sich der Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler und fragte: „Zusammenarbeit mit einem Kriegsverbrecher, der sich schon für die nächsten Ziele präpariert?"
Fraktionschef Matthias Miersch distanzierte sich ebenfalls: Das Papier sei ein Debattenbeitrag, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile.“ Miersch sagte: „Natürlich bleibt Diplomatie oberstes Gebot. Aber wir müssen auch ehrlich sagen: Viele Gesprächsangebote – auch vom Bundeskanzler Olaf Scholz – sind ausgeschlagen worden. Wladimir Putin lässt bislang nicht mit sich reden.“
Wenig Verständnis für das Manifest zeigte auch die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje Grotheer, die in der vergangenen Woche Kiew besucht hatte: "In der Nacht auf Montag wurden die zahlenmäßig größten Angriffe auf die Ukraine seit Beginn des Krieges gemeldet. Dass dieses Papier am selben Tag in Umlauf kam, finde ich persönlich befremdlich", so die SPD-Politikerin. Russland habe diesen Krieg vor drei Jahren begonnen und setze ihn fort. "Es ist also an Russland und nicht an Europa oder Deutschland, das Töten und Sterben in diesem Krieg zu beenden und dann vielleicht wieder Vertrauen herzustellen", erklärt die Bürgerschaftspräsidentin. "Und klar ist auch: Es darf keine Verhandlungen über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg geben. Solange Russland angreift, sehe ich überhaupt keinen Raum für eine Annäherung oder sogar Zusammenarbeit", so Grotheer.
Der Landesvorsitzende der Bremer SPD, Falk Wagner, wollte sich zu dem Papier ebenso wenig äußern wie Bürgermeister Andreas Bovenschulte. Dafür nahm sein Vorgänger Carsten Sieling (SPD), der zu den Unterzeichnern zählt, Stellung: "Es ist notwendig, dass wir nicht nur über Aufrüstung oder neue Waffensysteme reden, sondern auch darüber, wie wir diesen Krieg beenden können", so der ehemalige Bürgermeister und Bundestagsabgeordnete. Er sieht in dem Manifest einen Beitrag zu einer innerparteilichen Debatte, die geführt werden müsse und hoffentlich auch in Anträgen auf dem Parteitag ende.
Dass an einer solchen Debatte die Parteiführung oder Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Schaden nehmen könnten, sieht Sieling nicht. In der SPD werde über solche Fragen traditionell engagiert diskutiert. "Wir wären doch tot als Partei, wenn wir darauf verzichten würden. "Die SPD wird diese Debatte aushalten", ist sich Sieling sicher.