Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Rinkes Rauten Das Geheimnis der Scholz-Tasche

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein, Raute hin oder her.
12.12.2021, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Moritz Rinke

Es war Sommer in Berlin, schon 13 Jahre her, die SPD-Fraktion feierte an der Spree. Ich stand in einer Eiscreme-Schlange, als eine leise Stimme hinter mir sagte „Dramatiker essen also auch Eis“. Ich drehte mich um und sah den Minister für Arbeit und Soziales, der offensichtlich auch ein Eis essen wollte. „Es ist ja auch heiß“, sagte ich.

Er nickte mit dem Kopf und lächelte. Ich war ganz erstaunt, dass der Minister offenbar das Feuilleton liest, Dramatiker erkennt und sogar dieses Wort kennt, die meisten sagen „Dramaturg“, dabei ist das etwas ganz anderes als „Dramatiker“. Schließlich sah ich auf seine schwarze Aktentasche, die er unter dem Arm hielt.

„Kommst du gerade von der Arbeit?“, man duzt sich ja unter anständigen Genossen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass beim Duzen das hohe Ministeramt gleichsam schrumpfen würde.

„Ja“, antwortete er leise und kein Wort zu viel, dabei bedeutete er mir, ein Stück in der Schlange vorzurücken.

Wenn andere SPD-Minister in der Schlange gestanden hätte, hätte jeder gewusst, wer gerade ein Eis essen will.

An diesen kurzen, ersten Dialog erinnerte ich mich nun, als am 8. Dezember Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Und ich fragte mich, ob sich vielleicht schon irgendetwas Wesenhaftes des neuen Bundeskanzlers aus unserem ersten Dialog ableiten ließe? Die leise Stimme, überhaupt diese leise Art?

Normalerweise spürt man ja sofort, wenn ein Bundesminister hinter einem steht, solche Männer haben oft eine gewisse Raumverdrängung, werfen Bugwellen, nehmen sich den Platz. Oder werden umlagert. Wenn damals andere SPD-Minister wie Peer Steinbrück oder Sigmar Gabriel an seiner Stelle in der Schlange gestanden hätten, dann hätte jeder auf dem Fest gewusst, wer gerade ein Eis essen will.

Olaf Scholz aber hatte ich gar nicht bemerkt. Und trotzdem dieses leicht ironische „Dramatiker essen also auch Eis“, wie sollte man als solcher diesen Satz eigentlich verstehen? Dass man ein seltenes, exzentrisches Wesen ist, das sich doch eigentlich eher nicht in eine gewöhnliche Schlange für ein ganz normales Erdbeereis stellen würde?

In der Nachbetrachtung dieser kleinen Scholz-Szene meine ich heute, so einen leichten süffisanten Unterton herauszuhören (Vielleicht trifft es das ganz gut: „Süffisant“, Duden: „ein Gefühl von Überlegenheit genüsslich zur Schau tragend, selbstgefällig, spöttisch-überheblich.“ Aber eben ganz leicht, fein, zart, lächelnd, genüsslich). Irgendwie ist er mit diesen Eigenschaften Bundeskanzler geworden. Diese leichte, fast lautlose überhebliche Art, dass er es am Ende doch werden würde, selbst als die SPD im Februar noch weit abgeschlagen hinter der Union und den Grünen lag. Dann diese stille, belehrende Bestimmtheit (wie er mich in der Eisschlange darauf hinwies, ein Stück nach vorne zu rücken). Und vor allem dieses, wie es mir damals schien, erstaunliche Wissen (sogar über Dramatiker!).

Vielleicht steckte das ganze Scholz-Wissen in seiner Aktentasche?

Am Tag der Kanzlerwahl sah ich auch wieder diese Aktentasche im Fernsehen, als Scholz zur ersten Sitzung des neuen Bundeskabinetts kam. Das muss damals dieselbe Tasche gewesen sein, dachte ich sofort, denn Scholz soll nie die Aktentasche gewechselt haben, die er sich als junger Anwalt in Hamburg zugelegt hatte. Vielleicht steckt das ganze Scholz-Wissen auch in seiner schwarzen, abgewetzten Aktentasche, die er seit 40 Jahren mit sich umherträgt? Vielleicht ist sie so eine Art fliegender Teppich, mit dem er alles erreicht? Vielleicht steckte in ihr auch das Wissen, dass er am Ende nicht katastrophale 16, sondern eine winzige Mehrheit von 25 Prozent bekommen würde, die ihn leise-bestimmt ins Kanzleramt fliegen lässt?

Als Dramatiker glaube ich tief und fest daran, dass noch viel aus der Scholz-Tasche kommt. Am ersten Tag seiner Kanzlerschaft kam erst einmal Schnee.

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)