Frau Peter, Sie gehören zur sogenannten mitgebrachten Generation Russlanddeutscher. Was bedeutet das?
Ira Peter: Ich wurde in Zelinograd, heute Astana, geboren. In Kasachstan haben wir zur etwa eine Million großen Minderheit der Deutschstämmigen gehört. Als ich neun Jahre alt war, zogen meine Eltern mit mir und meinen beiden Geschwistern nach Süddeutschland. Vielen in Deutschland ist unsere Migrationsgeschichte unbekannt. Ihnen ist oft nicht klar, dass die meisten Russlanddeutschen nicht aus Russland, sondern wie ich aus Kasachstan kommen. Meine Großeltern lebten in einer deutschen Siedlung in Wolhynien in der nordwestlichen Ukraine. Sie wurden schon vor dem Zweiten Weltkrieg deportiert, 1936. Diese Deportationen sind ebenfalls weithin unbekannt. Einen ganzen Landstrich ließ Stalin damals deportieren, weil dort überwiegend Deutsche und Polen lebten.
Wirkt die Vergangenheit Ihrer Großeltern bis in Ihre Gegenwart?
Mich hat meine russlanddeutsche Herkunft sehr geprägt. Sie bestimmt heute sogar einen Großteil meiner Arbeit, das mag ein Sonderfall sein. Ich komme aus dem Marketing- und PR-Bereich, ich war mehrere Jahre in der Pharmabranche tätig. Aber die Berichterstattung über Russlanddeutsche vor der Bundestagswahl 2017 hat mich so aufgeregt, dass ich angefangen habe, mich zunehmend mit dem Thema Russlanddeutsche und meiner Familiengeschichte zu beschäftigen.
Was hat Sie empört?
Mich hat verärgert, dass Russlanddeutsche sehr einseitig dargestellt und damit Vorurteile geschürt wurden. Es wurde der Eindruck erweckt, alle wären Putin-Fans und würden rechts wählen. Ich habe ein komplett anderes Selbstverständnis, und auch viele andere Russlanddeutsche, die ich kenne, fühlten sich missverstanden und verletzt. Genau solche Zurückweisungen und Ausgrenzungen sind es, die rechte Gruppierungen und Putin für sich zu nutzen wissen. Ich habe angefangen, mich öffentlich zu Wort zu melden, an Diskussionen teilzunehmen, zu recherchieren und Artikel zu schreiben, um dieses Bild zu korrigieren.
Wie haben Sie als Kind zu Ihrer Herkunft gestanden?
Ich war überangepasst. Je mehr es aber auf das Abitur zuging und je mehr ich mich von meiner damaligen Heimat, eine Kleinstadt in Süddeutschland, gelöst habe, desto mehr konnte ich mich mit meinen Wurzeln beschäftigen. Ich habe begonnen, mich mit unserer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Ich habe mich mehr und mehr in die Geschichte der Russlanddeutschen vertieft und angefangen, im Bundesarchiv zu recherchieren. 2018 bin ich erstmals in die Ukraine gereist, an den Ort, an dem meine Großeltern vor der Vertreibung gelebt hatten.
Wie kann man sich diese Überangepasstheit vorstellen?
Ich habe meine Wurzeln verleugnet. Es ging so weit, dass ich mich von der achten Klasse an Kea genannt habe statt Irina. Ich war sonst unauffällig, aber mein Name war in meinen Augen verräterisch. Ich wollte nicht mit diesem Russland in Verbindung gebracht werden, an dem, durch die Augen meiner Mitschüler betrachtet, die schmuddelige Sowjetunion klebte. Mein Bruder und ich haben meinen Eltern verboten, russisch zu sprechen und russische Musik zu hören. Als ich von einem Mitschüler einmal als Russin bezeichnet worden bin, hat mich das sehr beschäftigt und verletzt.
Woher resultierte das Bild des, wie Sie sagen, „schmuddeligen“ Russlands?
Zum einen nahm ich in Deutschland wahr, dass Russland kein so gutes Image wie Frankreich etwa hatte. Auf der anderen Seite sah meine Familie, und das ist noch heute der Fall, Russland als führende Nation innerhalb der Sowjetunion, die für die Enteignung und Deportation verantwortlich ist. Als wir hier ankamen, dachten viele, wir seien Russen. Dabei wurden meine Großeltern, mehrheitlich von Russen, in der Sowjetunion für ihr Deutschsein bestraft. Gerade für die Großelterngeneration der Russlanddeutschen muss diese Erfahrung im Deutschland der 1990er-Jahre sehr demütigend gewesen sein. In dem Dorf, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, lebten mehrheitlich Deportierte verschiedener Nationen. Für meine Familie war klar: Wir sind keine Russen, wir sind keine Kasachen, wir sind Deutsche.
Wie empfinden Sie es heute, dass Sie als Kind und Jugendliche nichts von Ihren Wurzeln wissen wollten?
Im Nachhinein finde ich es schade. Ich habe wenig von unserer russlanddeutschen Kultur mitbekommen, die aber Teil meiner Identität ist und immer bleiben wird. Ich habe mich ihr inzwischen wieder annähern können, aber ich kenne viele Russlanddeutsche, die keinen Zugang mehr finden können.
Zurück zum Beginn Ihres Engagements für die Anliegen von Russlanddeutschen. Der sogenannte Fall Lisa erhitzte damals die Gemüter: Ein 13-jähriges Mädchen aus Berlin mit deutsch-russischen Wurzeln wurde Anfang 2016 als vermisst gemeldet. Als es am nächsten Tag wieder auftauchte, behauptete es, von „Südländern“ entführt und vergewaltigt worden zu sein. Das wurde politisch ausgenutzt, obwohl sich später herausstellte, dass alles frei erfunden war.
Dieser Fall, die Demonstrationen und die Instrumentalisierung durch das rechte Lager und russische Propaganda, hat – nach der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 – nicht nur zu Vorurteilen gegenüber Russlanddeutschen geführt, sondern auch zu Brüchen in russlanddeutschen Familien. Auch ich habe bei Familienfeiern sehr merkwürdige Ansichten zu hören bekommen. Es gab Verwandte, die vieles geglaubt haben, was von russischer Seite gezielt verbreitet worden war, um Unfrieden in der deutschen Gesellschaft zu stiften.
Sie haben begonnen, das Bild von Russlanddeutschen zu korrigieren und haben damit offenbar eine Leerstelle gefüllt. Wie erklären Sie sich, dass in der Öffentlichkeit wenig über Russlanddeutsche bekannt wird?
Zum einen gibt es kein Selbstverständnis als russlanddeutsche Community, dazu sind die Menschen viel zu unterschiedlich. Zum anderen wollen die meisten Russlanddeutschen nicht sichtbar sein, sie verstehen sich als Teil der Mehrheitsgesellschaft, ohne ein besonderes Anliegen. Nicht von ungefähr wird – gerade in der Landsmannschaft – oft der Begriff der Heimkehrer verwendet. Ich finde ihn jedoch sonderbar. Meine Familie stammt aus Ostpreußen, sie hat nie in dem Gebiet des heutigen Deutschlands gelebt. Wir haben eine kulturelle Verbindung zu Deutschland, durch die Sprache, die Religion und bestimmte Bräuche, aber ich empfinde mich trotzdem einer migrantischen Gruppe zugehörig. Russlanddeutsche sind es gewohnt, sich anzupassen – ob in Kasachstan oder in Deutschland. Auch meine Eltern sind bis heute sehr zurückhaltend und möchten um keinen Preis auffallen.
Woher kommt das?
Als wir in den 1990er-Jahren in Deutschland ankamen, herrschte großer Assimilationsdruck. Deutschland verstand sich nicht als Einwanderungsland. Viele Russlanddeutsche haben es vermieden, in der Öffentlichkeit russisch zu sprechen. Inzwischen ist die Gesellschaft glücklicherweise deutlich offener. Es ist wichtig, sich zu integrieren, die Landessprache zu beherrschen, sich an Regeln und Gesetze zu halten und das Wertesystem des Aufnahmelandes zu respektieren. Aber es ist ebenso wichtig und sollte auch möglich sein, gleichzeitig seine Herkunftsidentität zu bewahren.
Steht diese Überangepasstheit auch politischem Engagement im Weg?
Ganz bestimmt. Dagegen spricht das gelernte Verhalten aus der Sowjetunion, sich nicht politisch zu engagieren, und das Selbstverständnis, sich nicht als migrantische Gruppe zu verstehen. Deshalb gibt es wenige Vertreter für russlanddeutsche Interessen. Natalie Pawlik, Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, gehört aber zum Beispiel dazu.
Sie sprachen von Brüchen in Familien, die durch die Annexion der Krim ausgelöst worden sind. Was nehmen Sie als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine wahr?
Seit dem 24. Februar 2022 gibt es riesige Gräben innerhalb russlanddeutscher Familien. Das gilt auch für uns. Ich habe einige Verwandte bei Whatsapp blockiert, ich konnte ihre Liebeshymnen auf Putin nicht ertragen. Ich habe auch einige Freundschaften auf Eis gelegt. Ich bin so erschüttert von den Ereignissen in der Ukraine, für mich ist dieser Krieg ein immenser Schmerz. Ich kann nicht fassen, dass Mitglieder meiner Familie von einem Befreiungskrieg reden. Ich habe versucht, mit ihnen zu reden, aber das führt zu nichts. Sie werden seit acht Jahren mit Putins Propaganda gefüttert. Ich befasse mich beruflich mit der Ukraine, ich war oft dort und habe mit vielen Menschen geredet, trotzdem wird mir kein Glauben geschenkt.
Handelt sich um Freunde und Verwandte, die in Russland leben?
Nein. Es sind Menschen, die teilweise wie ich als Kinder nach Deutschland gekommen sind. Sie bewegen sich in Informationsblasen und sind dort für Debatten und Argumente gegen Putin unerreichbar.
Sie haben Kontakte in die Ukraine. Was hören Sie von dort?
Eine meiner engsten Freundinnen lebt in der Ukraine. Nach einem Jahr Krieg ist sie physisch und psychisch am Ende. Aber je länger der Krieg dauert, desto weniger will sie das Land verlassen und aufgeben. So geht es sehr vielen Ukrainerinnen und Ukrainern. Sie sind in einer schrecklichen Lage gefangen. Das Leid ist ungeheuer groß.
Auch die russische Zivilbevölkerung leidet unter diesem Krieg. Sie haben mit Russen gesprochen, die vor dem Krieg geflohen sind.
Russland besteht nicht nur aus Putinisten. Viele Russen schauen weg, so wie Deutsche während des Nationalsozialismus weggeschaut haben. Aber viele russische Männer schließen sich auch freiwillig Putins Armee an. Dabei handelt es sich oft um Menschen aus sehr entlegenen Gebieten Russlands, denen es wirtschaftlich sehr schlecht geht und die keinerlei Perspektiven haben. Sie und ihre Familien sind froh, in der Armee Geld verdienen zu können. Wer gegen den Krieg ist, versucht das Land zu verlassen. Ich habe mit vielen Russen in Georgien und Armenien gesprochen, die vor der Mobilmachung geflüchtet sind. Dabei handelt es sich meist um gebildete und gut situierte Menschen. Sie hoffen auf einen Sieg der Ukraine, damit die Russen zur Besinnung kommen und endlich sehen, was wirklich in ihrem Land vor sich geht.
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Was sagen Sie zu der Debatte um die Lieferung von Leopard-Panzern und anderen Waffen?
Ich bin Pazifistin. Ich bin gegen jegliche Form von Gewalt. Vor Kriegsbeginn habe ich nur schweren Herzens einen offenen Brief unterzeichnet, der sich unter anderem für Waffenlieferungen ausgesprochen hat. Aber mit dem Krieg ist mir schnell klar geworden, dass wir alles tun müssen, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. So schrecklich es auch ist, im Jahr 2023 nur mit Waffengewalt zum Ziel zu kommen – es gibt aus meiner Sicht keinen anderen Weg. Man kann kaum mit Terroristen verhandeln. Wir müssen den Kreml daran hindern, weiterhin Menschen zu töten.