Frau Müller, warum dieses Buch? In Ihrer Einleitung weisen Sie selbst darauf hin, dass es schon eine Reihe von Ratgebern für Eltern gibt, um ihre Kinder vor der Brutalität des Internets zu schützen.
Silke Müller: Weil es noch nicht reicht. Ich glaube, dass wir uns ein gesamtgesellschaftliches Versagen eingestehen müssen. Wenn es angesichts der Radikalisierung im Netz weiterhin möglich ist, dass Kinder unbegleitet auf brutalste und verstörendste Inhalte treffen können, haben wir versagt. Es gibt supertolle Präventionsprojekte, in Niedersachsen, in Bremen und in allen anderen Bundesländern. Es gibt Medienpädagogen, die Aufklärungsarbeit leisten, auch in den Schulen. Es gibt immer wieder gute Initiativen. Aber am Ende des Tages müssen wir uns eingestehen, dass das alles offenbar nicht zum Erfolg führt.
Woran machen Sie das fest?
Welche Inhalte Kindern zugänglich sind, sehe ich tagtäglich in der Schule. Das sieht auch die Öffentlichkeit in bestimmten Fällen, die für Schlagzeilen sorgen. Dennoch haben wir Erwachsenen scheinbar die Dimension dessen, was da los ist und auf unsere Kinder einstürmt, noch nicht erkannt. Die Welt in den sozialen Netzwerken ist völlig außer Kontrolle geraten, viele Kinder werden damit ungebremst konfrontiert. Kinderseelen können dauerhaft Schaden nehmen.
Haben Schulen nicht die Aufgabe, Kinder vor den Gefahren des Netzes zu warnen?
Sicher. In den Lehrplänen ist Medienkompetenzerziehung verankert. Immer wieder wird auch die Forderung laut, Medienkunde als eigenes Fach einzuführen, was meiner Meinung nach nichts ändern wird. Wir meinen, wir könnten so einen Haken dahinter machen. Aber wir müssen uns mit der Wirklichkeit der Kinder und Jugendlichen konkret auseinandersetzen. Das ist etwas ganz anderes. Denn die Kinder wissen natürlich, dass man keine Nacktfotos von sich verschickt. Sie wissen, dass man nicht heimlich Mitschüler filmen und das ins Netz stellen darf. Trotzdem wirkt dieses Wissen nicht. Die analoge und die digitale Welt müssen gemeinsam gedacht werden, weil Kinder sie so erleben. Es geht nicht um Medien-, sondern um Lebenserziehung.
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Was meinen Sie, wenn Sie feststellen, dass für Kinder die analoge und die digitale Welt verschmelzen?
Man muss sich vorstellen, dass beispielsweise die ersten intimen Kontakte von Teenagern meist digital sind. Sie verschicken eher Nacktfotos von sich, als sich vor jemandem in einer intimen Situation zu entkleiden. Dies geschieht in einem komplett rechtsfreien Raum, in dem sich die Kinder und Jugendliche oft unbegleitet aufhalten. Was wirkt wie eine Riesen-Spielwiese und Teil der Jugendkultur ist, ist – gelinde gesagt – auch ein Haifischbecken. Das ist vielen Eltern nicht klar.
Sie schildern in Ihrem Buch einige Beispiele, die Eltern nicht gerne lesen werden. Was hat Sie am meisten schockiert?
Das kann ich gar nicht sagen. Ich habe sehr viel gesehen, und was ich gesehen habe, ist krass. Das fängt bei der Hetz- und Hexenjagd im Fall der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg an, die von Mitschülerinnen getötet worden sein soll. Auch unsere Schülerinnen und Schüler haben über Tiktok die Namen, Fotos und Adressen der verdächtigen Mädchen erhalten. Harte Porno- und grausamste Gewaltszenen sind keine Ausnahme. Es gibt Websites, die schlimmste Unfälle und Vergewaltigungen zeigen, die von Überwachungskameras erfasst wurden. Schüler haben mir eine Szene gezeigt, in der offenbar ein Mann kastriert wurde. Das hat selbst mir Albträume bereitet.
Es gibt Filter, die das Nutzen von Smartphones altersgerecht beschränken …
Es gibt gute Filter und Listen von Adressen, die man sperren lassen sollte. Aber es gibt täglich neue Seiten, und manches lässt sich nicht filtern. Man sperrt Tiktok ganz oder gar nicht. Zudem verschiebt man mit Filtern das Problem: Was Kinder nicht auf dem eigenen Gerät schauen, sehen sie auf den Geräten ihrer Freunde, denn auch Kinder sind sensationslustig und neugierig. Man kann dem Kind quasi einen Helm kaufen, aber er nutzt wenig, wenn es sich auf einer viel befahrenen Straße befindet, wo Lkw um es herumrasen.
Vielleicht sollten Kinder gar kein Smartphone haben.
Ein Kind im Grundschulalter sollte man meiner Meinung nach nicht freiwillig dem aussetzen, was da auf es einstürmt. Das halte ich für fahrlässig. Ich verstehe gut, dass Eltern für ihre Kinder erreichbar sein oder ihre Wege nachverfolgen können wollen. Aber ein Smartphone kann auch sehr gefährlich werden, dessen muss man sich bewusst sein. Müttern und Vätern muss klar sein, dass nicht nur auf einer Party Gefahren lauern, sondern auch in der digitalen Welt. Sie sollten wissen, welche Gefahren das sind, um ihre Kinder darauf vorzubereiten. Bestenfalls legen sie sich einen eigenen Account an und geben sich als Teenager aus, um zu sehen, was ihre Kinder sehen. Denn eines ist klar: Der Fehler liegt nicht bei den Kindern. Es ist unsere Aufgabe, sie zu behüten und zu begleiten.
Welches ist Ihrer Meinung nach das richtige Alter?
Selbst wenn es unrealistisch ist, weil die Kinder schon viel früher danach quengeln – mit 16, 17 Jahren ist man alt genug, um mit den Angeboten im Internet umgehen zu können. Dann ist die Hauptphase der Pubertät vorbei, damit auch die Charakterbildungs- und Findungsphase, Selbstbewusstsein und Widerstandsfähigkeit sind aufgebaut. Das heißt, dass Erfahrungen und Erlebnisse im Netz nicht mehr so großen psychischen Schaden anrichten können.
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Für Sie ist es selbstverständlich, dass Kinder abends vor dem Schlafengehen ihr Smartphone abgeben.
Das halte ich für ungeheuer wichtig. Bei uns in der Schule dürfen, obwohl wir sehr digital aufgestellt sind, private Smartphones nicht benutzt werden. Das wird auch allseits akzeptiert. Aber nachmittags und vor allem in den Abend- und Nachtstunden sind die Kinder mit ihren Geräten meist unbeaufsichtigt. Sie haben niemanden, mit dem sie über Inhalte, die sie irritieren oder verstören, reden können. Niemand hält sie davon ab, Inhalte zu teilen und damit womöglich Mitschülern zu schaden. Es gab mal einen Spot von Klicksafe, wo man sah, wie Prostituierte, Skinheads und andere obskure Gestalten an der Tür klingelten und nach „Klausi“ fragten und die Mutter sie freundlich hineinbat. Genau so ist es.
Sie erwähnen in Ihrem Buch auch selbstkritisch, dass man als Erwachsener die eigene Mediennutzung überprüfen sollte.
Auf jeden Fall. Wir selbst sind nicht gerade leuchtende Vorbilder, wenn wir das Gerät ständig zur Hand haben und uns von jeder eintreffenden Nachricht ablenken lassen. Oder wenn man bedenkt, welcher Ton in Facebook-Kommentaren teilweise angeschlagen wird. In einer Demokratie kann und muss man sich anders auseinandersetzen als mit Beleidigungen und wüsten Beschimpfungen. Auch das lesen und verfolgen Kinder und Jugendliche. Sie erleben Hass und Hetze, Homophobie und Rassismus, die von Erwachsenen ausgehen.
Schule muss Kindern nicht nur Wissen, sondern auch Werte mitgeben, schreiben Sie. Ist das nicht vor allem Aufgabe der Eltern?
Grundsätzlich ist das richtig, aber die Familien, in denen wir beide groß geworden sind, sind anders als Familien von heute. Sie sind häufig nicht mehr so stabil und damit nicht mehr so widerstandsfähig. Einigen Eltern fehlt in Erziehungsfragen die Orientierung. Die heutige Elterngeneration ist mit einer Rasanz der gesellschaftlichen Entwicklung konfrontiert, die es so nie zuvor gab und die es ihnen nicht leichter macht. Sie ist mit sozialen Netzwerken groß geworden. Wir haben es deshalb auch mit einem anderen Verrohungsgrad zu tun. Wir bekommen beispielsweise von Müttern oder Vätern zu hören, dass es die Faszination des Grauens schon immer gegeben habe. Das mag sein, aber das macht es nicht besser.
Können Schulen das überhaupt ausgleichen?
Der Druck auf Schulen wächst seit Jahren. Darauf müssen wir uns einstellen. Das meine ich nicht vorwurfsvoll. Was ich anklage: Dass die Politik weiterhin stoisch auf einem rund 200 Jahre alten Schulsystem besteht und nicht sieht, wie sehr sich die Welt der Kinder verändert hat und dass wir dafür beispielsweise deutlich mehr Sozialpädagoginnen und -pädagogen an Schulen brauchen.
Sie haben an Ihrer Schule neue Wege eingeschlagen. Wie sehen sie aus?
Wir unterbreiten den Kindern eine Reihe von Gesprächsangeboten. Wir schauen uns selbst an, worauf Kinder im Netz stoßen. Wir haben vor einigen Jahren eine Social-Media-Sprechstunde eingerichtet. Meiner Meinung nach müssten alle 40.000 Schulen in Deutschland dazu verpflichtet werden, so etwas anzubieten.
Wie kann man sich diese Sprechstunde vorstellen?
Dort können sich Kinder und Jugendliche melden, wenn sie mit verstörenden Videos oder Bildern konfrontiert oder von Fremden im Netz angesprochen werden. Sie können mit einem Erwachsenen reden, wenn sie in Whatsapp-Gruppen gemobbt werden oder wenn sie selbst virtuell Mist gebaut haben. Man muss wissen, dass es quasi keinen Konflikt mehr gibt, an dem soziale Netzwerke nicht beteiligt sind. Wir haben hier glücklicherweise einen Kollegen, der sich mit großem Engagement in die digitale Welt der Kinder begibt, ihre Algorithmen bedient und daher mitkommt, was dort los ist und womit wir umgehen müssen. Unser Wissen geben wir an Eltern weiter, wir öffnen ihnen buchstäblich die Augen.
Eltern sollten wissen, womit ihre Kinder im Netz konfrontiert werden. Gilt das nicht auch für das Lehrerkollegium?
Absolut. Ich bin dankbar, dass das Kollegium an meiner Schule das Bewusstsein hat, wie umfassend die digitale Welt das Leben der Kinder beeinflusst. Es war ein Entwicklungsprozess, aber das ist als Grundverständnis pädagogischer Arbeit angekommen. Das heißt nicht, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer einen Instagram- oder Tiktok-Account hat, obwohl ich das nur empfehlen kann, aber sie sind dafür sensibilisiert. Der Kollege, der für die Social-Media-Sprechstunde zuständig ist, gibt auch regelmäßig Einblicke in die digitale Welt der Kinder. Das kann ich nur jeder Schule empfehlen.