In der Silvesternacht hat es in Berlin geknallt, nicht nur jahreswechselgemäß. Explodiert sind auch Aggression und Gewalt – erschreckenderweise gegen Menschen, die zum Helfen da oder unterwegs waren. Videos zeigen Verstörendes: Ein vom Straßenrand geschleuderter Feuerlöscher trifft und zerstört die Frontscheibe eines Rettungswagens. Ein junger Mann schießt mit einer Pistole einen Feuerwerkskörper in ein Polizeiauto. Ein Rudel Männer plündert ein Löschfahrzeug der Feuerwehr. Polizei und Feuerwehr beklagen Verletzte in ihren Reihen.
All das ist nicht neu in der Hauptstadt; aber anderntags tun alle so, vorneweg die Politik. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey verspricht „konsequente Strafverfolgung“, die oppositionelle CDU jammert über die Preisgabe des Rechtsstaates in der Hauptstadt – und schon ist das Thema mitten im beginnenden Wahlkampf.
Dort gehört es durchaus hin. Mehr allerdings als die Politiker sollte sich die Gesellschaft fragen, was eigentlich los ist mit ihr und mit der Republik, wenn es zur Normalität gehört, Helfer und Retterinnen an ihrer Arbeit zu hindern und bedenkenlos anzugreifen. Und so ist es ja. Beispiel Notaufnahmen: Nicht nur in Berliner Kliniken werden täglich Ärztinnen und Pfleger mit Worten und Fäusten attackiert; eine Umfrage der „Aktion: Notaufnahmen retten“ hat im Frühjahr ergeben, dass 94 Prozent der dort Beschäftigten in den zurückliegenden zwölf Monaten Gewalt erlebt hatten.
Schon seit 2017 werden tätliche Angriffe auf Polizistinnen und Retter zwingend mit Gefängnis bestraft. Zahl und Brutalität nehmen trotzdem zu. Was beweist: Gegen Verrohung helfen keine schärferen Gesetze. Vor den juristischen Grenzen haben die Randalierer längst andere überschritten, viel grundsätzlichere: die Grenzen der Moral. Oder, noch schlichter, noch verständlicher: die Grenzen des Anstands.
Ein altmodisches Wort für die auch im dritten Jahrtausend zeitgemäße und im Wortsinn notwendige Fähigkeit, jeden anderen so zu achten wie sich selbst. Wie es aussieht, wird beides in zu vielen Elternhäusern nicht gelehrt. Und erst recht nicht mehr durch das Leben, das zu häufig den Egoisten belohnt anstatt den Mitfühlenden. Mit schlechtem Beispiel geht viel zu oft voran – die Politik.