Am Tag danach zeigen sich alle entsetzt. Die Regierende Bürgermeisterin, die Innensenatorin und der Bezirksbürgermeister von Neukölln, der Zentrale der Gewalteskalationen in der Silvesternacht. „Angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen bin ich schockiert“, sagt Martin Hikel (SPD). „Dass wir auch in diesem Jahr darüber sprechen müssen, dass Rettungs- und Einsatzkräfte behindert, angegriffen und verletzt wurden, in Teilen sogar schwer, macht mich wütend“, sagt Iris Spranger (SPD), die Senatorin. „Wir werden erneut im Senat über die Ausweitung von #Böllerverbotszonen sprechen und Konsequenzen aus dieser #Silvesternacht ziehen müssen“, twittert die Regierende Franziska Giffey (SPD).
Die Berliner Feuerwehr schreibt am Ende ihrer Silvesterbilanz, man sei „fassungslos und traurig“ über die „Masse und Intensität der Angriffe auf unsere Einsatzkräfte“. Und dann zählt sie auf, was ihre Wehrleute ab Mitternacht in die Zentrale meldeten: „Schreckschusspistole ins Gesicht gehalten“, „Augenverletzung durch Pfefferspray“, „gezielter Beschuss mit Pyrotechnik während der Löscharbeiten“, „Behinderungen der Einsatzmaßnahmen durch Barrikaden“, „Plünderung von Einsatzfahrzeugen durch vermummte Personen“. Am Ende der Nacht sind bei 1717 Einsätzen 15 Wehrleute verletzt worden, einer muss ins Krankenhaus. Die Polizei meldet 41 Verletzte. Und, zunächst, 159 Festgenommene, überwiegend junge Männer und Jugendliche.
Handyvideos dokumentieren die Taten an Silvester
Man kann die Gewalt betrachten, in Videoclips, die ihren Weg aus den sozialen Netzwerken auf die Homepages der Berliner und nationalen Zeitungen finden. Man sieht, beispielsweise, wie ein junger Mann mit einer Pistole auf ein stehendes Polizeiauto zielt und durch die geöffnete Seitenscheibe der Fahrerseite einen Böller schießt, der im Inneren grell-leuchtend detoniert. Der Schütze geht vom Straßenrand seelenruhig zurück zu einer Gruppe Feiernder.
Die Polizei beginnt Dienstag spätnachmittags mit dem Nennen von Nationalitäten und von Zahlen, die sie dann aber mehrfach korrigiert. In der Nacht schließlich ein weiterer Stand, immer noch als vorläufig gekennzeichnet: 145 Festgenommene, die allermeisten junge Männer; erfasst insgesamt 18 Nationalitäten. Die Polizei benennt die drei mit den meisten Verdächtigen: 45 mit deutscher Staatsangehörigkeit, also weniger als ein Drittel, 27 mit afghanischer, 21 mit syrischer. Insgesamt seien 355 Verfahren wegen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten eingeleitet; alle Verdächtigen seien nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen wieder auf freiem Fuß. In der öffentlichen Wahrnehmung passt das zur Forderung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach Strafen „mit der ganzen Härte des Gesetzes“ wie die Faust aufs Auge.
Man kann auf diese Idee kommen, weil ja Gewalt gegen Hilfskräfte in Berlin längst kein Silvester-Phänomen mehr ist. In den Notaufnahmen der Kliniken gehört sie zum Alltag; im Frühjahr hat eine Umfrage der „Aktion: Notaufnahmen retten“ ergeben, dass 94 Prozent der dort Beschäftigten in den zurückliegenden zwölf Monaten Gewalt erlebt hatten. Und nun sind – oder tun – die Regierenden überrascht.
Erste Warnungen wurden in den Nullerjahren laut
Gerade in Neukölln aber hatte schon in den Nullerjahren der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) vor dem Totschweigen der Probleme durch den hohen Anteil von Migranten gewarnt. Seine Devise: „Eine Gesellschaft muss so viel Selbstbewusstsein haben, dass sie regelkonformes Verhalten im Interesse aller durchsetzt.“ In der SPD war Buschkowsky wegen seiner Offenheit – mit der er „Multikulti“ für „gescheitert“ erklärt hatte und „Araber und Türken“ für integrationsunwillig“ – umstritten gewesen, mindestens.
Jetzt sagt sein Nachfolger Hikel, zwar hätten wohl die allermeisten Täter in seinem Bezirk einen Migrationshintergrund. Aber ein Großteil der vielen Neuköllner mit Bindungen in andere Länder teile das allgemeine Entsetzen über die Gewalt.
Und jetzt sagt der arabisch-palästinensischstämmige Berliner Psychologe und Autor Ahmed Mansour, der Bücher schreibt „gegen falsche Toleranz und Panikmache“ bei der Integration: „Wir müssen endlich aufhören, solche Phänomene und Debatten punktuell wahrzunehmen.“ Unter den Angreifern seien viele Migranten, die den demokratischen Staat und seine Polizei als schwach wahrnähmen und verachteten – und ihn und andere als Vertreter des Staats wahrgenommene Institutionen deshalb attackierten.
„Die sind vom Staat, und wir sind gegen die“
Von einem Reflex spricht die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci in einem Interview mit dem „Spiegel“. Es gebe, nicht nur in Neukölln und Berlin, „hoffnungslos Abgehängte“ – vielleicht häufiger in Migrantenkreisen, aber nicht nur dort – deren Lebensprinzip sei: „Die sind vom Staat, und wir sind gegen die.“ Die Mehrheit der Neuköllner wünsche sich ein härteres Durchgreifen gegen diese Gewalttätigen, so Balci, einen Staat, der mehr Stärke zeige: „Die arabischen und türkischen Vereine sagen mir, es helfe nichts, wenn ein jugendlicher Straftäter dreimal den Schulhof fegen müsse.“ Hikel, der Bezirksbürgermeister, vermisst Konsequenz bei der Bestrafung von Gewalttätern – und schilt „die Justiz“ ganz allgemein „so träge“. Dabei gilt seit 2010 in ganz Berlin das von der Jugendrichterin Kirsten Heisig entwickelte „Neuköllner Modell“, das jugendliche Täter mit rasch auf das Delikt folgenden Urteilen vor einer kriminellen Karriere bewahren soll.
Montagnacht wird eine Feuerwache mit Silvesterraketen beschossen, als ihr Tor wegen eines einfahrenden Rettungswagens geöffnet ist. Diesmal wird niemand verletzt – und der mutmaßliche Schütze der Polizei übergeben. Mittwochmorgen kündigt die Regierende Bürgermeisterin Giffey an, sie werde in der kommenden Woche zu einem Gipfel gegen Jugendgewalt einladen.