Vor rund sieben Monaten noch durften sich Städte und Gemeinden berechtigte Hoffnungen auf mehr Spielräume machten. Auf dem Sommer-Verkehrsgerichtstag in Goslar versprach Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) den Kommunen „größere Entscheidungsfreiheit“ bei Klimaschutz, Gesundheit und Städtebau im Straßenverkehr. Ausdrücklich schloss der Liberale dabei auch die Ausweisung von Tempolimits und -zonen ein. Zwar gelte es, die Interessen des fließenden Durchgangsverkehrs zu beachten. „Ich bin hier aber sehr dialogbereit“, so der Bundesverkehrsminister.
Doch nach zwei weiteren für die FDP krachend verlorenen Landtagswahlen mit dem Rauswurf aus den Parlamenten in Niedersachsen und Berlin schaltet Wissing auf stur. Die Wirkung eines offenen Briefes von 600 Städten bundesweit verpuffte bisher ebenso wie Vorstöße seiner Länderkollegen, zuletzt vom niedersächsischen Ressortchef Olaf Lies (SPD). Wie schon ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen scheint nun auch Tempo 30 innerorts Teufelszeug zu sein.
Der Minister, dessen Partei Freiheit und Selbstverantwortung wie ein Mantra vor sich herträgt, verweigert diese Werte den Kommunen. Das ist Heuchelei – und neben dem Widerstand gegen einen Austausch klimaschädlicher Heizungen ein weiterer Verstoß gegen die Ampelbeschlüsse. In ihrem Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und eben auch die FDP eine Novelle des Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrsordnung (StVO) verabredet.
Diese ist leider notwendig. Bei der heiligen Kuh „Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs“ hat der Bund die Macht. Kommunen müssen selbst in ihren ureigenen Bereichen weitgehend stillhalten. Derzeit dürfen Städte nur in Ausnahmen von den innerorts üblichen 50 Stundenkilometern nach unten abweichen, etwa vor Schulen, Krankenhäusern oder Seniorenheimen. Tempo 30 in einem ganzen Wohnviertel ist ihnen gesetzlich verbaut.
Zwar wurde im Jahr 2000 eine Experimentierklausel in Paragraf 45 der StVO aufgenommen, wonach die örtlichen Straßenbehörden auch „zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen“ die Geschwindigkeiten auf 30 drosseln können. Aber dieses Instrument erwies sich bislang als stumpfes Schwert.
Vor zwei Jahren wagte die Region Hannover einen Modellversuch: Von den 20 Mitgliedskommunen neben der Landeshauptstadt wollten 19 mitmachen. Die jeweiligen Gemeindevertretungen hatten das in unterschiedlichen politischen Farbkonstellationen befürwortet. Auf mehr als 100 Kreisstraßen, auch Ortsdurchfahrten, sollten über drei Jahre lang die Effekte von Tempo 30 auf Unfallgeschehen, Lärmbelastung und Umweltschaden erforscht werden.
Doch das war dem damals CDU-geführten Landesverkehrsministerium zu viel des Guten; es stoppte das Vorhaben. Der Rahmen eines Tests werde bei Weitem überschritten, lautete ein Argument. Dass man im Schulterschluss mit dem damaligen CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer einer angeblich grünen Ideologie eins auswischen konnte, spielte sicher auch eine Rolle.
Im Laufe dieses Jahres will die Region angesichts der veränderten Verhältnisse einen neuen Anlauf starten. Dann kommt es für Niedersachsens rot-grüne Landesregierung und Ressortchef Olaf Lies zum Schwur. Unterstützen sie das Projekt, verteidigen sie es aktiv gegen mögliche Angriffe aus Berlin? Dass auch größer angelegte Versuche vom Experimentier-Paragrafen in der StVO eingeschlossen sind, kann man sicher gut juristisch begründen. Der Wortlaut der Vorschrift gibt es jedenfalls her.
Wichtiger aber wiegen die Vorteile von Tempo 30: weniger Lärm, weniger Abgase, mehr Lebensqualität in den Innenstädten und Wohnquartieren. Und vor allem mehr Sicherheit für Radfahrer, Fußgänger und spielende Kinder. Wer einmal ein Fahrtraining mit Bremsproben gemacht hat, weiß, dass ein plötzlich auf die Straße rennender Sechsjähriger bei 30 Stundenkilometern des Autos eine Chance auf Unversehrtheit hätte, bei Tempo 50 nicht mehr.
Vielleicht kann ein FDP-Verkehrsminister solchen Argumenten etwas abgewinnen. Volker Wissing sollte seine Blockade schnell beenden.