Ein Elefant steht in den Büros und Versammlungsräumen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Er heißt Boris – man duzt sich schließlich. Aber man spricht eher halblaut über ihn, und manche versuchen gar, ihn völlig zu ignorieren. Das aber vermasseln wieder mal die Medien: "Ich lege mich fest. Ein Jurist aus Osnabrück wird SPD-Kanzlerkandidat", postet etwa ein prominenter Kollege auf X, vormals Twitter. Witzig, witzig, das trifft nämlich sowohl auf Olaf Scholz als auch auf Boris Pistorius zu.
Hier also der ramponierte Noch-Regierungschef, dort der bislang fehlerfrei agierende Verteidigungsminister, in der Truppe geachtet und bei der zivilen Bevölkerung so populär, dass er ein Abonnement auf den Spitzenplatz in jeder Beliebtheitsumfrage hat.
Selbstverständlich ist das nicht, denn mit seinem Satz von der Kriegstüchtigkeit, die Deutschland wieder erlangen müsse, hat er der friedensverwöhnten Zivilgesellschaft einen tüchtigen Schrecken eingejagt.
Andererseits wurde dieser vor allem in sogenannten linksliberalen Medien artikuliert und beim linken Flügel seiner Partei – natürlich auch von der neuen Querfront aus AfD, BSW und Linken. Doch die große Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler kann eine klare Ansage und einen kräftigen Schuss Realpolitik durchaus vertragen.
Fakt ist: Noch hat die SPD keinen Kanzlerkandidaten benannt. Das geschieht erst auf einem Bundesparteitag, wohl Anfang 2025. Fakt ist auch: Es gibt keinen Automatismus, dass der amtierende Kanzler Spitzenkandidat seiner Partei bei der nächsten Wahl sein muss – erst recht nicht, wenn er seine erste Amtszeit nicht bis zum regulären Ende durchgehalten hat.
Fakt ist drittens: Bislang hat Scholz nicht einmal die Vertrauensfrage gestellt, sondern bloß einen Termin dafür genannt. Seine Genossinnen und Genossen haben also noch ein paar Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, ob sie lieber mit einem Gescheiterten oder einem Hoffnungsträger an der Spitze in den Wahlkampf ziehen wollen.
Für den Gescheiterten spricht außer seinem Überraschungssieg gegen Armin Laschet anno 2021 nichts. Allerdings wird CSU-Chef Markus Söder den Sozialdemokraten nicht erneut den Gefallen tun, nach Kräften den Unionskandidaten zu demontieren – sonst ist er nämlich bald selbst weg vom Fenster. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, tönte Scholz noch am Wahlabend – um danach drei Jahre lang zu zeigen, dass genau dies ein leeres Versprechen war. Von Pistorius wäre das sicher nicht zu erwarten.
Doch die SPD wäre nicht die SPD, wenn sie nicht immer wieder den fatalen Hang dazu hätte, ihren Leistungsträgern zu misstrauen. Von Gerhard Schröders Agenda 2010, einem unbestrittenen Fundament der wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands, hat man sich nach Kräften distanziert – zum Teil schon während Schröders Amtszeit. Der spätere Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bestand gegenüber der Partei ausdrücklich auf "Beinfreiheit".
Beim Nominierungsparteitag erhielt er das bislang zweitschlechteste Ergebnis – nur Schröder genoss noch weniger Vertrauen. Eine offene Frage ist also, ob Pistorius sich das überhaupt antun will. Ein anderer Niedersachse mit Kanzler-Potenzial – Ministerpräsident Stephan Weil – hat das ja längst für sich ausgeschlossen.
Absehbar ist aber auch: Nimmt die SPD mit Scholz einen zweiten Anlauf aufs Kanzleramt, wird sie eher unter als über jenen 15 Prozent landen, die sie in aktuellen Umfragen hat. In einer Koalition mit einer 35-Plus-Union wäre die Koch-Kellner-Frage sehr eindeutig geklärt.
Geschwächt in die Opposition zu gehen wäre erst recht "Mist", wie schon SPD-Urgestein Franz Müntefering formulierte. Mit einem Kanzlerkandidaten Pistorius hingegen wäre ein Durchmarsch des Unionskandidaten Friedrich Merz – nicht gerade ein Liebling der Massen – keineswegs ausgemacht. Wenigstens für eine SPD-Vizekanzlerschaft auf Augenhöhe mit maßgeblicher Beteiligung am Kabinettstisch würde es reichen. Eine so austarierte "Groko" wäre nicht zuletzt auch ein Beitrag zur Stabilisierung des ganzen Landes.