Die Debatte ist im Grunde wieder da angekommen, wo sie einmal war – im Frühjahr ausgelöst durch den Lockdown, im Herbst durch die strengeren Auflagen für Bewohner von Risikogebieten. Was ist angemessen, was ist durchsetzbar? Was scheint fundiert und was willkürlich? Was geht vor: Freiheit oder Sicherheit? Wo ist das Ende der Fahnenstange?
Die Verhältnismäßigkeit spielt eine zentrale Rolle – vor allem in rechtsstaatlicher, auch in politischer Hinsicht. Schießt man quasi mit Kanonen auf Spatzen, wenn man die Freiheiten der Menschen weiterhin oder erneut in nie gekannter Weise einschränkt? Sind die Auflagen „geeignet, erforderlich und angemessen“, wie es juristisch heißt? In welcher Relation stehen die gesundheitlichen zu den wirtschaftlichen Risiken? Ist man zu zaghaft, weil man seine Wähler nicht vergraulen will, geht man zu weit, um sie als harter Hund zu beeindrucken?
Von einer Routine im Umgang mit diesen Fragen sind die Beteiligten weit entfernt, von der Politikerin bis zum Lobbyisten, vom Juristen bis zur Bürgerin. Was hier als „Flickenteppich“ kritisiert wird, gilt da als angemessen. Dazu gehört die Unterscheidung in Risiko- und Nicht-Risikogebiet, die die Auflagen für Bremen von jenen in Bremerhaven, die in Delmenhorst von denen in Verden trennt.
Hohe Infiziertenzahlen, hohes Risiko, hohe Auflagen
Als „praktizierte Verhältnismäßigkeit“ bezeichnete Heribert Prantl, Autor der „Süddeutschen Zeitung“, vor einigen Tagen die Maskenpflicht auf viel besuchten Plätzen in München, weil sie „die Corona-Maßnahmen regionalisiert, lokalisiert und differenziert“. Die Generalisierung und Pauschalisierungen des Frühjahrs müssten vermieden werden, so Prantl. Nachvollziehbar ist das: hohe Infiziertenzahlen, hohes Risiko, hohe Auflagen. Doch in der Praxis bereitet die Differenzierung (verhältnismäßig große) Schwierigkeiten. Woher sollen Ortsunkundige wissen, ob sie gerade ein Risikogebiet betreten? Durch eine Kennzeichnung am Ortseingangsschild wie in Tollwut-Gebieten?
Es gibt keine mathematische Gleichung, mit der sich Verhältnismäßigkeit errechnen ließe. Das macht die Sache kompliziert: Was die Richter in Baden-Württemberg, Niedersachsen und im Saarland für unverhältnismäßig halten, das Beherbergungsverbot, wird in Hamburg anders bewertet. Dort wurde das Verbot vom Oberverwaltungsgericht bestätigt: Der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Hamburger sei bedeutsamer als das private Interesse der Touristen aus Köln, die die Metropole besuchen wollten, und geklagt hatten. Baden-Württemberg hat am Sonnabend schon beim Überschreiten eines Inzidenzwerts von 35 „die höchste Alarmstufe“ ausgerufen.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ beschäftigte sich an diesem Wochenende mit der Frage, ob ein allgemeiner Inzidenzwert überhaupt angemessen ist. Überschrift: „Fünfzig hier sind nicht wie fünfzig dort“. Es komme nicht allein auf den Anstieg der registrierten Ansteckungen an. Wichtiger sei, ob die Gesundheitsämter die Nachverfolgung der Kontakte gewährleisten könnten. In Berlin-Reinickendorf, wo die Behörde einräumte, der Lage nicht mehr gewachsen zu sein, sei der Grenzwert offenbar zu hoch gewesen. In anderen Städten – wie Leverkusen – sei er zu niedrig, weil die Gesundheitsämter gut genug aufgestellt seien.
Die Frage der Verhältnismäßigkeit ist auch eine individuelle. Was dieser Tage nicht ausdrücklich verboten ist, muss nicht angemessen sein. Nicht-coronisch ausgedrückt: Man muss auf der Autobahn nicht wie verrückt aufs Gas treten, wo es kein Tempolimit gibt. Wer sich empört, als Bürger mehr und mehr mit Weisungen und Verboten gegängelt zu werden, muss beweisen, dass das nicht nötig ist. Muss prüfen, wie dringlich ein Herbsturlaub oder eine Familienfeier sein kann. Muss abwägen, wie viel es gut versorgten und behüteten Bürgern abverlangt, Mund und Nase zu bedecken, wo sich viele Menschen tummeln – selbst wenn der Ort nicht in zur offiziellen Pflicht-Zone gehört. Und muss die Definition von Zumutung ins Verhältnis setzen. Ein Blick über die Grenzen des Kontinents Komfortzone kann hilfreich sein.