Auf tragische Weise haben die Morde in Hanau die Parlamentarier in Sachsen-Anhalt in ihrem Tun bestätigt: Am Freitag reformierten die Abgeordneten der CDU, der SPD, der Grünen und der Linken gemeinsam die Landesverfassung. Damit verpflichtet sich der Staat explizit, sich gegen nationalsozialistische und antisemitische Tendenzen zu stellen. Eingefügt in die Grundsätze des Landes wird der Artikel 37 a: „Die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen.“ Damit gilt die sachsen-anhaltinische Verfassung als die erste bundesweit, die diesem Thema Verfassungsrang zubilligt. Vier von fünf Fraktionen haben die Verfassungsänderungen mitgetragen. Die AfD erwartungsgemäß nicht. Sie erwägt, wie es heißt, den Gang vor das Verfassungsgericht.
Der Reform ging ein rund ein Jahr dauernder Abstimmungsprozess voraus. Und eine Wahl – im Jahr 2016 – bei der die AfD fast ein Viertel der Wählerstimmen (24,3 Prozent) auf sich vereinte, zulasten beinahe aller anderen Parteien. Eine Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen regiert seither das Bundesland. Die nächste Wahl steht 2021 an. Dem Beschluss vorausgegangen ist auch das Attentat in Halle: Gegen einen 27-Jährigen, der im Oktober aus antisemitischen Gründen einen Terroranschlag auf die Synagoge plante, ermittelt die Bundesstaatsanwaltschaft wegen zweifachen Mordes und neunfachen versuchten Mordes.
Auch andere Artikel der Verfassung wurden erweitert oder ergänzt: Aufgenommen wurde der vorurteilsfreie Schutz sexueller Identität, ein Bekenntnis zu gleichwertigen Lebensverhältnisse im ganzen Land, das Klima soll „als Grundlage menschlichen Lebens“ geschützt, einer globalen Erwärmung „im Rahmen des Möglichen“ entgegengewirkt werden. Die Quoren für Volksbegehren werden gesenkt, die Zahl der Wahlkreise und das Parlament von 2021 an verkleinert. Die Schuldenbremse wird in der Verfassung verankert. Die SPD feiert die Landesverfassung als eine der modernsten der Republik. Bremen und Niedersachsen ist zugutezuhalten, dass ein Teil der Neuerungen hier bereits Verfassungsbestandteile sind – wie beispielsweise der Diskriminierungsschutz für jegliche sexuelle Identität.
Die Verfassung zu reformieren ist das eine. Das andere ist, sich ernsthaft und regelmäßig zu fragen, wie weit verfassungsrechtliche Ansprüche und die Wirklichkeit auseinanderklaffen. Wenn sich Bürger nach 1945 auf etwas verlassen sollten, dann darauf, dass Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung nicht geduldet werden – in keinem Bundesland. Ist diese Annahme noch belastbar? Trügt der Eindruck, dass sich in diesem Punkt die übergroße Mehrheit der Deutschen so einig ist wie in kaum einem anderen?
Es gibt beunruhigende Entwicklungen: Die Ereignisse in Thüringen haben verdeutlicht, dass die AfD keineswegs grundsätzlich parlamentarisch isoliert ist. Sie wurde, ob aus Naivität oder Machtgier, dazu befähigt, Einfluss auf die Regierungsbildung zu nehmen. In Sachsen-Anhalt tun sich manche Christdemokraten schwer, sich gegen jede Kooperation mit der AfD zu wenden. Im Sommer sagte Ulrich Thomas, CDU-Fraktionsvize in Sachsen-Anhalt, der „Mitteldeutschen Zeitung“: „Wir sollten eine Koalition jedenfalls nicht ausschließen. Stand jetzt ist sie nicht möglich – wir wissen aber nicht, wie die Lage in zwei oder fünf Jahren ist.“ Gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU-Bundesspitze sprachen sich laut ARD-„Deutschlandtrend“ im Juni fast die Hälfte der befragten Wahlberechtigten aus.
Damit nicht der Hauch eines Zweifels besteht, ist es also offensichtlich an der Zeit, was man lange für selbstverständlich hielt, neu laut auszusprechen, eigens zu unterstreichen – und in der bremischen und niedersächsischen Landesverfassung einmal mehr für alle Zeit zu zementieren.