Als Sie mit Ihren Eltern vor den Nazi-Terror in Wien flohen, waren Sie noch ein kleines Kind. Was ist Ihre nachdrücklichste Erinnerung an die fast dreimonatige Flucht auf mehreren Schiffen?
Zeev Engler: Das ist schwer zu sagen. Aber als am 12. März 1938 der sogenannte Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich vollzogen wurde, waren am nächsten Tag die Nazis bei uns in der Wohnung. Meine Mutter hat mich wohl gehalten, ich war zehn Monate alt. Mein Großvater und mein Onkel hatten sich bei guten Freunden versteckt. Aber meine beiden Tanten wurden von der Hitlerjugend mitgenommen. Nicht weit von unserem Haus mussten sie auf Knien eine Wiener Straße mit Wurzelbürsten schrubben.
In Ihrem Vortrag zeigen Sie auf ein Foto davon, Ihre Tanten sind zu erkennen. Eine perfide Demütigung.
Als Kind habe ich keine Erinnerung an sie. Aber die Bilder habe ich mit den Jahren gesammelt. Mein Glück ist, dass wir auch in Israel zu Hause immer nur Deutsch gesprochen haben. So konnte ich später im Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands recherchieren. Die eine Schwester meiner Mutter konnte nach England entkommen, die andere nach Uruguay und dann nach Argentinien.
„Entweder ihr verschwindet über die Donau oder in der Donau“, sagte Adolf Eichmann der jüdischen Gemeinde 1938. Hatte man zu lange vertraut, dass sich die Verhältnisse normalisieren?
Eichmann und Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitshauptamtes, hatten sogar Vertreter der zionistischen Untergrundbewegung Haganah nach Berlin eingeladen. Denen wurde gesagt, die Juden müssten entweder nach Palästina auswandern oder sie würden in Arbeitslager – also die ersten KZ - umgesiedelt. Sogar vier Flussdampfer für den Exodus der Juden über die Donau hatte man gestellt. Die Haganah sollte nur dafür sorgen, dass die Exilanten ihr komplettes Vermögen im Reich ließen. In der Wiener Stadtverwaltung habe ich später die Vermögenserklärung meines Onkels gefunden.
An diesem Dienstag wird im Bremer Schnürschuh-Theater „Die Odyssee der Hanni Baumgarten“ aufgeführt. Die junge Frau aus Verden war mit Ihnen und Ihren Eltern an Bord der „Patria“ – hatten Sie persönlichen Kontakt zu ihr? Hat sie vielleicht mal auf Sie aufgepasst?
Nein, ich war drei Jahre alt. Ich habe sie nicht gekannt.
Die „Patria“ sollte aus Europa geflohene Juden von Haifa nach Mauritius bringen, weil die britische Mandatsmacht sie nicht in Palästina haben wollte. Aber dann geschah eine Katastrophe, die Sie nur knapp überlebt haben.
Wir hatten Glück und wurden als letzte an Bord gebracht. Mein Bruder Uri wurde unterwegs geboren, er war einen Monat alt und kam auf einem oberen Deck in eine Krankenschwesterkabine. Am nächsten Tag sollten wir um 9 Uhr an Deck antreten, als sich eine Explosion ereignete. Mein Vater hat mich zwischen die Beine genommen, und wir sind – meine Mutter neben uns – ins Wasser gerutscht. Das Schiff ist ja nicht untergegangen, sondern im Hafen nur sehr schnell auf eine Seite gesunken.
Es waren Zionisten, die die „Patria“ gesprengt haben. Es gab 254 Todesopfer. Wie bewerten Sie die Aktion rückblickend als Überlebender?
Die Alternative wäre gewesen, dass sämtliche Juden auf der "Patria" nach Mauritius deportiert werden. Ich weiß nicht, wie mein Vater das verkraftet hätte. Er ist ohnehin sehr jung gestorben, als er erfahren hat, dass seine restliche Familie ermordet worden ist.
Es gibt nicht wenige, die Israel heute wegen der Kriegführung im Gazastreifen Völkermord vorwerfen. Wie empfinden Sie das als Überlebender der Shoah?
Man kann das überhaupt nicht vergleichen. Das ist ein Krieg, in dem wir nicht auf Unschuldige zielen. Wir zielen auf diejenigen, welche das Massaker unter Juden am 7. Oktober 2023 angerichtet haben. Aber die geben nicht auf. Die Mehrheit hier will keinen Krieg führen. Wir sind umkreist von so vielen Feinden, und heute früh war ich nicht sicher, ob nicht wieder Raketen aus dem Jemen kommen. Mein Enkelsohn, der gerade sein Studium begonnen hatte, wurde wieder einberufen. Dreieinhalb Jahre Militär hat er schon hinter sich. Zwei Enkeltöchter dienen in der Luftwaffe. Und wir haben trotzdem nicht genug Soldaten. Dabei ist es doch gelungen, mit Ägypten Frieden zu schließen und mit Jordanien, eventuell schaffen wir das auch mit Syrien.
Sie selbst haben in mehreren Nahostkriegen Israel als Soldat verteidigt. Haben Sie noch Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden?
Ich habe die Hoffnung, dass wir bei den nächsten Wahlen eine andere Regierung bekommen. Und dass alle unsere Nachbarn eventuell zu der Einsicht kommen, dass wir in Frieden besser miteinander leben als im Krieg. Ich verliere nicht die Hoffnung, denn dann muss man einen anderen Weg suchen. Ich verlasse dieses Land nicht, keiner von uns denkt daran. Wir halten daran fest.
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.

Der Wiener Shoah-Überlebende Zeev Engler floh 1940 gemeinsam mit seinen Eltern und der Verdenerin Hanni Baumgarten nach Palästina.