Auf den Stufen vor dem obersten Gericht der USA liegen weiße Tulpen und Lilien, die Trauernde dort für eine Frau niedergelegt haben, die als zweite Verfassungsrichterin in den USA Geschichte geschrieben hat. Ruth Bader Ginsburg hat in den 27 Jahren am Supreme Court Generationen von Frauen inspiriert, die in der als „RBG“ bekannten Richterinnen-Ikone eine unerschrockene und kluge Vorkämpferin der Gleichberechtigung sahen.
„Sie hat als Anwältin, als Denkerin des Rechts, als Verfassungsrichterin und als Frau viele, viele Dinge zuerst erreicht“, sagt die schwarze Rechtsprofessorin Regina Burch, die spontan zu der Wirkstätte Ginsburgs pilgerte, als sich am Freitagabend die Nachricht von deren Tod wie ein Lauffeuer verbreitete. Burch sagt, sie sei nicht nur traurig über den Verlust einer verlässlich liberalen Stimme im Gericht, sondern besorgt um die Zukunft. „Wir haben Angst und fürchten uns vor dem was passiert mit der Wahl für ihre Nachfolge.“
So ging es vielen der mehr als 1000 Menschen, die sich vor dem Supreme Court versammelten, einander trösteten und „This is our Land“ sangen. Sie ahnten, was kommen würde. Keine 24 Stunden später drängte US-Präsident Donald Trump darauf, die Vakanz am obersten Gericht der USA noch vor den Wahlen zu füllen. „Wir sind in diese Position der Macht und Bedeutung gebracht worden, um eine Entscheidung für das Volk zu treffen“, erklärte Trump via Twitter am Sonnabendvormittag. „Wir haben diese Verpflichtung ohne Verzug“.
Schwere Krebserkrankung
Der Präsident hatte nach einer Wahlveranstaltung in Minnesota vom Tod Ginsburgs erfahren, die seit Jahren wegen einer schweren Krebserkrankung in Behandlung war. In einer ersten Reaktion fand Trump anerkennende Worte für die Verstorbene. „Egal, ob man mit ihr übereinstimmte oder nicht, sie hat ein großartiges Leben geführt.“
Sehr viel weiter reichte der Respekt nicht. Der Präsident ignorierte den letzten Willen, den Ginsburg auf dem Totenbett ihrer Enkelin Clara Spera diktiert hatte. „Mein glühendster Wunsch ist, dass meine Richterstelle nicht besetzt wird, bevor ein neuer Präsident vereidigt ist.“ Ob dieser in Erfüllung geht, hängt weniger an Trump, der als Präsident das Recht hat, eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu nominieren. Alle Augen richten sich nun auf den republikanischen Senatsführer Mitch McConnell der entscheiden muss, ob er auf der Zielgeraden im Wahlkampf Anhörungen zur Bestätigung des Kandidaten durchführen und zur Abstimmung bringen will.

Vor dem obersten Gericht legen Trauernde Blumen auf die Treppen.
McConnell, der selber um seine Wiederwahl in Kentucky kämpft, verfügt nur über eine knappe Mehrheit von 53 zu 47 Stimmen im Senat. Zwei Senatorinnen, Lisa Murkowski aus Alaska und Susan Collins aus Maine, hatten sich bereits vor dem Tod Ginsburgs öffentlich festgelegt, in Trumps Amtszeit keine neuen Verfassungsrichter mehr zu bestätigen. Mindestens zwei weitere Senatoren, Lindsey Graham und Charles Grassley, gelten als Wackelkandidaten.
Der Mehrheitsführer versprach, zügig zu handeln. „Über Präsident Trumps Kandidaten wird es im Senat eine Abstimmung geben“, erklärte McConnell, der sich allerdings nicht festlegen wollte, ob dies vor oder nach den Wahlen geschehen wird. Der gegenwärtige Kongress ist noch bis Anfang Januar im Amt und kann auch in der Übergangszeit handeln.
Der Herausforderer der Demokraten, Joe Biden, erfuhr – ebenfalls auf Wahlkampfreisen von Minnesota zurück nach Delaware – vom Tod der Richterin. „Die Wähler sollen über den Präsidenten entscheiden und der Präsident soll den Richter auswählen, den der Senat dann bedenkt“, erklärte Biden, der exakt dieselben Worte gebrauchte, mit denen McConnell 2016 eine Anhörung des Kandidaten Merrick Garland zehn Monate vor den Wahlen verweigerte, den Barack Obama als Nachfolger für die verstorbene Ikone der Konservativen, Anthony Scalia, nominiert hatte.
Obama erinnerte in einer Erklärung an die Blockade seines Kandidaten durch McConnell. Der Senatsführer habe damals argumentiert, in einem Wahljahr sollte der Wille der Wähler nicht ignoriert werden. Selbst wenn dieser aufgestellte Standard „erfunden“ war, müsse er auch diesmal gelten. „Das fundamentale Funktionieren unserer Demokratie“ hänge an der gleichmäßigen Anwendung von Prinzipien.
Das Ringen um die Nachfolge Ginsburgs fügt nach Ansicht von Analysten dem ohnehin schon beispiellosen Wahlkampf unter den Bedingungen einer Pandemie ein weiteres Element an Unsicherheit hinzu. Da Richter am Supreme Court auf Lebenszeit ernannt werden, mobilisiert das Thema Liberale wie Konservative. Sollte sich Trump durchsetzen, könnte er über lange Zeit eine konservative Mehrheit am obersten Gericht der USA zementieren.
Gemessen am Spendenaufkommen der demokratischen Lobbygruppen Act Blue unmittelbar nach der Nachricht vom Tod Ginsburgs, sind die Demokraten hoch motiviert. Innerhalb nur einer Stunde nahm die Organisation 6,2 Millionen Dollar an Spenden ein.