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Debatte über Wahlrechtsreform Union macht Druck, SPD bremst

Die Union will nun doch Wahlkreise streichen. Doch vor der Sommerpause wird es wohl keine Entscheidung mehr über eine Wahlrechtsreform geben. Die SPD sieht noch Gesprächsbedarf beim Unions-Vorschlag.
01.07.2020, 18:43 Uhr
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Von Albert Funk

Marco Wanderwitz ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als Ostbeauftragter der Bundesregierung gehört er zu den Gesichtern der Koalition in der zweiten Reihe. Dem nächsten Bundestag will er wieder angehören, seine Basis hat ihn bereits als Direktkandidaten der CDU im Wahlkreis Chemnitzer Umland-Erzgebirgskreis II aufgestellt. Allerdings könnte ihm der Wahlkreis abhandenkommen. Nämlich dann, wenn umgesetzt wird, worauf sich die Unionsfraktion im Bundestag am Dienstagabend nach mehrstündiger Debatte verständigt hat: die Abschaffung von 19 Wahlkreisen nämlich, um so die weitere Aufblähung des Parlaments zu verhindern, das 709 Abgeordnete hat. Es sollen künftig nur noch 280 Wahlkreise sein. Und das Chemnitzer Umland könnte nicht mehr dazugehören.

Das Gesetz, mit dem die bisher eingerichteten 299 Wahlkreise zur Wahl 2021 neu zugeschnitten wurden, meist nur mit kleineren Korrekturen, ist erst am 29. Juni im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Nun wäre es Makulatur, wenn sich die Große Koalition zügig auf eine Wahlrechtsreform verständigen würde. Das Abschaffen von 19 Wahlkreisen wäre eine größere Aktion, die weitaus mehr Wahlkreise betreffen würde durch Aufteilungen und komplette Neuzuschnitte, um die gesetzlichen Bedingungen vor allem hinsichtlich der Wählerzahl erfüllen zu können. In der Union gibt es eine Tendenz, den Beschluss vom Dienstag schon zur Wahl 2021 umzusetzen und nicht erst 2025. Und ihn am besten auch noch in dieser Woche mit der SPD umzusetzen.

Dass der erst 2009 eingerichtete Wahlkreis 163, der einen längeren Streifen westlich von Chemnitz bildet und in dem Wanderwitz dreimal als Direktkandidat erfolgreich war, zu den Streichkandidaten zählt, lässt sich leicht erklären. Denn Wahlkreise, die in einem Wahlgebiet – in dem Fall der Freistaat Sachsen – innen liegen und von mehreren anderen Wahlkreisen umgeben sind, sind die naheliegenden Opfer einer solchen Reform, weil sie leicht aufgeteilt werden können. Und bei 19 Streichungen dürfte Sachsen mit einem Wahlkreis dabei sein. Bremen wäre bei einer Wahlkreisreduzierung auf 280 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht betroffen.

Schäuble-Vorschlag aufgegriffen

Die Verständigung in der Unionsfraktion hat neben der Verringerung der Wahlkreiszahl noch einen weiteren Punkt: Es sollen bis zu sieben Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben. Das wäre eine Abkehr vom bisherigen System, das seit 2013 gilt und auch mit den Stimmen von CDU und CSU beschlossen worden war. Denn das geltende Wahlrecht sieht Ausgleichsmandate vor, wenn Überhänge entstehen, um so stets den Parteienproporz gemäß dem Zweitstimmenanteil zu wahren. Würden nicht mehr alle Überhänge ausgeglichen (sie ergeben sich, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Mandate zustehen), dann wäre der Proporz verzerrt. Unter Umständen könnte das sogar für die Regierungsbildung entscheidend sein. Die SPD hat das bisher abgelehnt, auch alle Oppositionsfraktionen – AfD, FDP, Linke, Grüne – sind dagegen.

Was die Union jetzt möchte, entspricht dem Vorschlag, den Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im vorigen Jahr gemacht hatte, damit aber von allen Seiten Widerspruch erntete. Er schlug vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu verringern und bis zu 15 Überhänge nicht auszugleichen. Diese Zahl ergibt sich, weil das Bundesverfassungsgericht – allerdings in einer Entscheidung, die das seit 2013 nicht mehr geltende Wahlrecht betraf – einmal feststellte, dass bis zu dieser Größenordnung Überhänge ohne Ausgleich akzeptabel wären. Insbesondere von der CSU wurde jedoch jede Verringerung der Wahlkreiszahl abgelehnt – bis Dienstagabend.

Nach Berechnungen des Bundesinnenministeriums damals hätte das Schäuble-Modell bei der Bundestagswahl 2017 zu 641 Sitzen geführt. Mit 280 Wahlkreisen und sieben Überhängen ohne Ausgleich würden es deutlich mehr sein – man würde wohl etwa bei 690 Mandaten landen, die von der SPD und der CSU als Deckelungsgrenze ins Gespräch gebracht worden sind. Je nach Ausgang der Wahl – Umfragen ergeben derzeit ohne Reform eine Größe von etwa 750 Sitzen – könnte trotz der beiden von der Union nun vorgeschlagenen, eher maßvollen Schritte durchaus ein Bundestag herauskommen, der mehr als die aktuell 709 Abgeordneten hätte.

Die Sozialdemokraten haben am Mittwoch eher verhalten auf den Unionsvorschlag reagiert. Man müsse sich das erst einmal erklären lassen, hieß es. Doch aus der Union wurde schnell Druck gemacht, zu einer zügigen Lösung zu kommen. „Wir brauchen eine Einigung noch diese Woche“, sagte der Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei der Deutschen Presse-Agentur. Dann aber müsste die SPD über ihren Schatten springen – und eine Proporzverzerrung akzeptieren. Die Union wird dagegenhalten, sie sei ja gesprungen, indem sie weniger Wahlkreise akzeptiert habe. „In dieser Woche halte ich eine Entscheidung für ausgeschlossen“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider. Er sei aber zuversichtlich, dass noch rechtzeitig für die Wahl 2021 eine Verständigung gelinge.

Opposition pocht auf Parteienproporz

Die Opposition wird bei ihrer Linie bleiben, dass jede Reform den Parteienproporz erhalten müsse. Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle kommentierte das Ergebnis der abendlichen Unions-Fraktionssitzung so: „Es ist zu spät, es ist zu wenig und es ist zu unambitioniert.“ Die von FDP, Linken und Grünen geforderte Abstimmung über ihren Gesetzentwurf am Freitag im Bundestagsplenum verhinderte die Koalition am Mittwoch im Innenausschuss. Die Begründung: Es gebe noch Beratungsbedarf.

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