Kris Hammond, Chefentwickler des amerikanischen Technologieunternehmens Narrative Science, kündigte einmal an, dass bis 2016 der erste Computer einen Pulitzerpreis bekommen würde.
Oh, davon sind wir auch 2020 noch weit entfernt. Künstliche Intelligenz (KI) kann schon vieles – den Pulitzerpreis gewinnen aber noch nicht.
Lässt sich „weit entfernt“ genauer beziffern?
Nicht wirklich. Erst mal: KI ist kein neues Gebiet. Das gibt es schon seit über 60 Jahren. Gerade in den Anfängen hatten Wissenschaftler den Wunsch nach einem General Problem Solver, also einem flexibel einsetzbaren Problemlöser, orientiert am Menschen. Mit einer Art Alleskönner sind natürlich große Hoffnungen verbunden. Prognosen wie die des Pulitzerpreises sind vor allem deshalb zu weit gegriffen, weil man immer wieder feststellen muss: Viele Aufgaben des täglichen Lebens und der Arbeitswelt sind enorm komplex.
Zu komplex für eine Maschine?
Ende der Neunzigerjahre konnte erstmals ein Schachprogramm den amtierenden Schach-Weltmeister schlagen. Da war der Aufschrei natürlich groß. Wenn eine Maschine so was kann, was ist dann noch alles möglich? Die Sache ist aber die: Unser normales Leben findet nicht auf einem Acht-mal-acht-Feld und selten nach festen, sich wiederholenden Regeln statt.
Was meinen Sie damit?
Systeme funktionieren sehr gut – inzwischen sogar deutlich besser als Menschen – wenn sie konkrete Aufgaben, feste Regeln und Abläufe haben. Sie können mittlerweile zum Beispiel Sprachdaten auswerten, Dialekte verstehen. Allerdings, und das ist wichtig: Verstehen im Sinne von Akustik. Nicht das Verstehen im Sinne von Bedeutung. Wenn Gesagtes Redewendungen, Andeutungen, Sarkasmus und Ironie beinhaltet, wenn ich ein Verständnis für den Kontext brauche, liegen Computerprogramme häufig weit daneben. Ein menschenähnliches Verständnis fehlt Maschinen bis heute. Und uns Menschen fehlt das Verständnis dafür, wie wir es Maschinen beibringen können.
Im Internet lassen sich etliche Artikel über den sogenannten Roboterjournalismus finden, darüber, dass Algorithmen die Arbeit echter Journalisten irgendwann ersetzen könnten.
Ich würde immer unterscheiden zwischen Robotern und KI. Über Roboter wird sehr viel erzählt. Wenn wir uns aber mal in unserer normalen Welt in unserem Alltag umschauen, gibt es eigentlich kaum welche. Rasenmähroboter und Staubsaugerroboter sind die einzigen Roboter, die es in unserer echten Umwelt gibt. Das wird sich auch erst mal nicht ändern. Ich würde ohnehin nicht von Ersetzen sprechen. Ich sehe eine große Chance in sogenannten Assistenzsystemen.

Rolf Drechsler ist seit 2001 Professor für Rechnerarchitektur an der Universität Bremen im Fachbereich Mathematik und Informatik. Seit fünf Jahren leitet er darüber hinaus den Forschungsbereich Cyber-Physical-Systems am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) mit Sitz in Bremen. Cyber-Physical-Systems sind Systeme, die sowohl aus Hardware als auch aus Software bestehen und versuchen, die reale und die virtuelle Welt zusammenzubringen.
Was heißt das?
Assistenzsysteme sind Systeme, die den Menschen unterstützen. Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann der Mensch gut, was der Computer – und wie geht beides zusammen? Eine Herausforderung unserer Zeit ist, Systeme zu unserem Nutzen einzusetzen, uns von ihnen aber nicht bestimmen zu lassen.
Wäre ein Interview, wie wir es gerade führen, auch mit einer Maschine denkbar?
Sie könnten einen einfachen Fragenkatalog vorbereiten, den die Maschine systematisch abarbeitet. Allerdings fehlt ihr eine journalistische Grundkompetenz: Sie kann nicht kritisch nachfragen, kann nicht um die Ecke denken. Ich bin auf dem Gebiet kein Experte, vermute aber, gerade das ist es doch, was den Journalismus zu einem Großteil ausmacht, oder nicht? Er beleuchtet Besonderheiten, die aus der Menge herausragen. Er überrascht, deckt Neues auf und wiederholt nicht bloß, was eh schon alle wissen.
Gerade Porträts und Reportagen leben auch davon, dass ich als Journalistin vor Ort bin, dass ich beobachte, zuhöre, empathisch bin.
Nehmen wir das Beispiel Gesichtserkennung. Wenn Sie auf eine Gruppe von zehn Leuten treffen, können Sie sich nicht jedes Gesicht gleichzeitig anschauen und registrieren, wer gerade was tut, wer wohin schaut, wer möglicherweise mit den Augen rollt. Eine Maschine registriert äußere Merkmale. Etwa, wenn eine Person in Stresssituationen immer dieselbe Handbewegung macht. Da ist Ihnen die Maschine überlegen. Was sie aber nicht versteht und nicht beantworten kann, sind Fragen wie: Warum agiert eine Person in diesem Moment so? Was treibt Menschen an?
Abgesehen von Gesichtserkennung: Wie kann Künstliche Intelligenz Journalisten in ihrer Arbeit unterstützen?
Was KI sehr gut kann, ist große Datenmengen für die Recherche zu durchforsten, zu analysieren und aufzubereiten. Nehmen wir das Thema Corona. Sie wollen wissen, bei welchem Land weltweit das Verhältnis von Infizierten zu Todesfällen am höchsten ist. Für den Journalisten ist das eine wahnsinnig öde, kleinteilige und anstrengende Aufgabe, noch dazu fehleranfällig, weil man schnell mal was übersieht. Der Computer hingegen kann das hervorragend. Sein Vorteil: Er wird nie müde. Er hat auch keine Tagesform – er funktioniert.

Kann KI auch Texte schreiben?
Texte, die gewisse Muster haben und immer ähnlich aufgebaut sind, sind nahezu perfekt möglich. Ich habe da zum Beispiel Pressemitteilungen zu wissenschaftlichen Themen vor Augen, die häufig ähnlich aufgebaut sind. Ich glaube, die bekommt auch ein Computer mit guter Qualität hin.
Das dürfte ja auch für Meldungen gelten. Dort gibt es einen bestimmten Aufbau: im ersten Satz stehen die wichtigsten Informationen, im ersten Absatz werden alle W-Fragen beantwortet. Dürfte doch regelhaft genug sein, dass das auch eine Maschine schafft?
Genau. Polizeimeldungen etwa ließen sich vermutlich leicht generieren, die würden sich wahrscheinlich nicht mal schlecht lesen. Sobald es aber um tiefere Recherche, Einordnung und Informationen geht, die nicht explizit sind, kommt der Computer nicht mehr mit. Als Journalistin haben Sie ja auch ein Gefühl dafür, was Sie beispielsweise nicht schreiben dürfen – etwa sexistische oder rassistische Äußerungen, oder Dinge, die nicht der redaktionellen Linie entsprechen. Was einer KI bisher auch noch fehlt, sind ethische Richtlinien.
So etwas wie Moral in Systemen?
Ja. Wenn man einer KI immer mehr Entscheidungsmacht gibt, soll diese natürlich auch unseren moralischen Grundwerten entsprechen. Stellen Sie sich vor, Sie interviewen jemanden, der einen Selbstmord gesehen hat. Ein Computer würde jetzt die gängigen Fragen stellen: Wann ist das passiert, was genau haben Sie gesehen? Wenn die interviewte Person dann aber so was sagen würde wie „Ich denke selbst über einen Selbstmord nach“, wären Sie als Journalistin sofort alarmiert, würden nicht zur nächsten Frage übergehen. Die Maschine hingegen merkt nicht, dass jemand gerade drastisch den Kontext verlässt. Sie verfolgt ein striktes Dialogsystem und würde einfach fortfahren.
Nach allem was Sie sagen, klingt der Ersatz von Redakteuren durch Maschinen in absehbarer Zeit nach ziemlicher Utopie.
Ja. Man kann immer sagen: In 40 Jahren sind Computer so intelligent wie Menschen. Aber wenn keiner weiß, wie das geht, finde ich solche Äußerungen einfach sehr abstrus.
Das Gespräch führte Imke Wrage.
Rolf Drechsler ist seit 2001 Professor für Rechnerarchitektur an der Universität Bremen im Fachbereich Mathematik und Informatik. Seit fünf Jahren leitet er darüber hinaus den Forschungsbereich Cyber-Physical-Systems am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) mit Sitz in Bremen. Cyber-Pysical-Systems sind Systeme, die sowohl aus Hardware als auch aus Software bestehen und versuchen, die reale und die virtuelle Welt zusammenzubringen.
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Dieser Artikel ist Teil der Sonderveröffentlichung zum 75. Geburtstag des WESER-KURIER. Am 19. September 1945 erschien die erste Ausgabe unserer Zeitung. Anlässlich des Jubiläums blicken wir zurück auf die vergangenen Jahrzehnte: Erinnern uns an die Anfänge unserer Zeitung und auch an die ein oder andere Panne. Und wir schauen nach vorn: Wie werden Künstliche Intelligenz und der Einsatz von Algorithmen den Journalismus verändern? Natürlich denken wir auch an Sie, unsere Leser und Nutzer. Wer folgt unseren Social-Media-Kanälen, wer liest unsere Zeitung? Was ist aus den Menschen geworden, über die wir in den vergangenen Jahren berichtet haben? Und wie läuft er eigentlich ab, so ein Tag beim WESER-KURIER?