Dass Bürger im öffentlichen Raum überwacht werden, ist keine sonderlich neue Erkenntnis. Überwachungskameras in Parkhäusern oder Bahnhofshallen zeichnen Besucher auf. Automatische Kennzeichenerkennung erfasst Autofahrer. Und Fußgänger überwachen sich selbst mit Ortungsdiensten und GPS, die mal eine Militärtechnologie waren. Doch Bürger werden auch an Orten überwacht, an denen man es zunächst nicht vermuten würde.
In immer mehr US-Städten werden akustische Überwachungssysteme, sogenannte Shot-Spotter, installiert, die Schüsse lokalisieren und automatisch die Polizei alarmieren. Das System funktioniert so: Wenn irgendwo ein Schuss fällt, zeichnen Sensoren das Geräusch auf. Mittels Triangulation, einem Verfahren, bei dem Laufzeit und Position der Schallquelle berechnet werden, wird der Schall geortet. Diese Information wird an ein Kontrollzentrum weitergeleitet. In Milwaukee sitzen etwa Spezialisten, die anhand bestimmter Muster Audiodateien aus dem mehr als 3500 Kilometer entfernten Newark in Kalifornien auswerten und im Verdachtsfall die Polizei verständigen. Laut einem Bericht des „Time“-Magazins haben die Analysten der Firma Shot-Spotter im Jahr 2016 mehr als 80 000 Schüsse registriert.
In Städten wie Chicago, wo im Durchschnitt fast zwei Menschen pro Tag erschossen werden, mögen Schussdetektoren ein legitimes Mittel der Kriminalitätsbekämpfung sein. Datenschützer sind allerdings besorgt, was die Mikrofone außer Schüssen sonst noch mithören. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) behauptet, dass die Mikrofone heimlich Menschen belauschen können. Wenn die Mikros aus der Ferne aktiviert werden und sich in Konversationen einklinken könnten, wären sie ein Instrument der Massenüberwachung, kritisieren die Datenschützer auf ihrer Webseite. Die Herstellerfirma Shot-Spotter hält dagegen, dass die akustischen Sensoren auf Häuserdächern platziert würden und so konfiguriert seien, dass sie nur auf besonders laute Geräusche wie Schüsse reagierten. Beide Darstellungen klingen plausibel. Doch wenn man bedenkt, dass Apps heimlich Smartphone-Mikrofone aktivieren und Fernsehwerbung belauschen, erscheinen die Herstellerangaben nicht allzu glaubwürdig.
Big Brother kommt im Gewand der Öko-Lampe daher
Laut einem Bericht der „New York Times“ sollen die Schussdetektoren in der Stadt New Bedford im US-Bundesstaat Massachusetts einen lauten Streit auf der Straße aufgezeichnet haben, was über den eigentlichen Zweck der Hardware weit hinausgeht. Die Technik hat sich seitdem weiterentwickelt. Algorithmen könnten aus Audiodateien bestimmte Signalwörter filtern. Technisch wäre das kein Problem. US-Geheimdienste tüfteln bereits an solchen Filtertechniken. So hat die NSA ein audioforensisches Tool entwickelt, das Sprachaufnahmen automatisch in Text übersetzt und katalogisiert – eine Art „Google für die Stimme“. Die Polizei, so die Befürchtung der Datenschützer, könnte in Echtzeit Gespräche von Personengruppen mithören – und notfalls präventiv eingreifen.
Nicht nur auf Häuserdächern, auch in Straßenlaternen ist die Überwachungstechnologie versteckt. Vom Stadtmarketing werden diese Laternen als besonders umweltfreundlich gepriesen. Big Brother kommt im Gewand der Öko-Lampe daher. In San Diego, der zweitgrößten kalifornischen Stadt an der Grenze zu Mexiko, wird das bisherige Netz aus 50 Laternen bis Mai auf mehr als 2500 aufgerüstet. Die unscheinbaren Beleuchtungssysteme sind Hochleistungsrechner, ausgestattet mit einem Intel Atom-Prozessor, Bluetooth und Wifi, hochauflösenden Kameras, akustischen Sensoren, einer integrierten Wetterstation, die Temperatur, Luftdruck und Vibration misst, sowie einem halben Terabyte Speicherplatz, um die Daten zu verarbeiten. Die Laterne scheint nicht nur, sie spioniert auch.
Die Lampen, die von einer Tochterfirma von General Electric betrieben werden, sollen zunächst einen Radius von 36 bis 54 Metern vermessen. Das Beleuchtungssystem soll dazu dienen, Autofahrern freie Parkplätze zuzuweisen und Falschparker zu melden. Anhand der Sensorendaten soll der Verkehrsfluss optimiert werden. Chad Marlow, Datenschützer bei der ACLU, argwöhnt, dass die als Straßenbeleuchtung camouflierten Spähposten in Gegenden mit geringem Einkommen oder einem hohen Anteil von Afroamerikanern platziert werden könnten – oder vor einer Moschee. Doch so lange Überwachungstechnologien als harmloses Stadtmöbel in den urbanen Raum geschmuggelt werden, wird auch keine Debatte über Überwachung stattfinden.