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Seelische Gesundheit Wenn das Kind an einer Psychose erkrankt ist

Für Eltern von erwachsenen Kindern, die unter einer Psychose leiden, ist deren Unterstützung eine Dauerbelastung. Hilfreich ist der Austausch mit Gleichgesinnten. Aber Angehörige brauchen mehr Unterstützung.
19.10.2023, 05:00 Uhr
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Wenn das Kind an einer Psychose erkrankt ist
Von Ulrike Troue

„Es ist ein permanenter Stress, dem man ausgesetzt ist“, erzählt Britta Pöplau. Die Bremerin hat einen erwachsenen Sohn, dessen Persönlichkeit sich vor zwei Jahren plötzlich stark verändert und in einer Akutsituation zur Diagnose einer Psychose geführt hat. „Das war ein Schock, eine Lähmung, man weiß nicht, was man machen soll“, erinnert sich die 55-Jährige an das plötzliche Gefühl von Traurigkeit und tiefer Einsamkeit durch diesen Schicksalsschlag.

Deshalb wünscht sie sich für sich und andere betroffene Angehörige Verbesserungen: „Die ganze Familie und das soziale Umfeld sind betroffen – und alle sind hilflos.“ Das psychiatrische System sei für Außenstehende kaum zu durchblicken, urteilt die im Ostertor lebende Bremerin.

„Es gibt keine Informationen, ich musste mir alles anlesen – und vieles versteht man nicht“, sagt sie. Die Krankheit ist bei ihrem heute 23-jährigen Sohn während des Studiums vor zwei Jahren zur Coronazeit in Berlin ausgebrochen. Mögliche Anzeichen könnten nach ihrem heutigen Wissen „leicht mit pubertären Auswüchsen“ verwechselt werden. Dazu zählt unter anderem der Konsum von Cannabis, das Psychosen auslösen kann.

Von einer Minute auf die andere musste Britta Pöplau den sozialpsychiatrischen Apparat in Gang setzen. Sie wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte, um ihr Kind in Behandlung zu bringen, weder wo noch in welche. Parallel dazu forderten Job und Familienleben Kraft und Zeit. „Man kämpft auf vielen Ebenen“, stellt die Bremerin fest. „Erwachsenenvorgänge sind zäh und langwierig“, schiebt sie mit Blick aufs Teilhabegesetz nach.

Halt, Zuversicht und neue Energie gibt Britta Pöplau der Austausch mit Gleichgesinnten. Mit ebenfalls betroffenen Angehörigen kann sie offen, ohne Scham und Schuldgefühle sprechen und trifft auf Verständnis. Den Elternkreis für psychische Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis hat Andrea Roosch vor zweieinhalb Jahren mit ins Leben gerufen. „Man ist bemüht, das Anderssein anzunehmen und fühlt sich vom System alleingelassen“, bestätigt die Mutter eines psychisch kranken 28-Jährigen, der sich durch zehnjährige Behandlung stabilisiert hat. Es gebe zwar Hilfen, aber ihrer Ansicht nach fehlt eine Anlaufstelle für Angehörige mit professioneller Ansprache, um in Ruhe alles besprechen zu können.

„Wir haben unheimlich was zu leisten und zu tragen“, betont die Woltmershauserin mit Blick auf die Labilität eines an einer Psychose erkrankten Menschen. „Angehörige können sich nie sicher sein, dass eine gute Phase anhält.“ Und Britta Pöplau ergänzt: „Und der Kranke selbst kommt im Kopf nie zur Ruhe.“

Die ganze Familie und das soziale Umfeld sind betroffen
 – und alle sind hilflos.
Mutter Britta Pöplau

Die Bestrebungen, unter einer psychischen Erkrankung leidende Menschen stationär nicht länger als nötig zu behandeln, sondern ambulante Maßnahmen zu ergreifen und ihnen einen einigermaßen normalen Alltag zu ermöglichen, finden beide Mütter grundsätzlich richtig. „Es wäre nur schön, wenn es mehr Austausch gäbe“, erklärt Andrea Roosch. Viele Informationen der Eltern, die für Psychiater, Sozialpädagogen oder Neurologen wichtig wären, blieben auf der Strecke. „Sie sehen die Erkrankung, wir Angehörige sehen den Erkrankten anders, das macht uns traurig.“

Gute Erfahrungen hat Britta Pöplau mit dem psychiatrischen Behandlungsangebot im persönlichen Lebensumfeld (Bravo) gemacht. „Das hat gut geklappt“, erzählt sie von der engmaschigen Begleitung während der Behandlung ihres Sohnes. In einer Krise konnte sie seinen Berater anrufen: „Das hat die Situation deutlich erleichtert, Bravo ist eine super Sache“, lobt die 55-Jährige das ambulante Angebot.

Dass Behandler nur bei vorliegender Einwilligung des erwachsenen Kindes Auskunft geben dürfen, ist für Britta Pöplau nachvollziehbar, aber im privaten Umgang eine große Belastung. Nicht jeder Erkrankte zeigt Krankeneinsicht. „Wenn ein Betroffener etwas nicht will, müssen die Angehörigen das schultern“, sagt sie, etwa wer Medikamente verweigert und Radau macht. Es besteht die Gefahr, dass auch Angehörige krank werden.

„Wenn man Glück hat, bekommt man Zugang“, schildern beide Mütter aus Erfahrung. Denn ein Erkrankter fühle sich in seinem psychischen Erleben selber nicht krank, sondern reagiere auf Hilfe von der Außenwelt ängstlich, argwöhnisch oder aggressiv. „Es ist so schwer, die Ruhe zu bewahren, wenn man selbst emotional eingebunden ist“, gestehen sie. Für Angehörige wäre ein Deeskalationstraining wichtig: Wie muss ich mein Verhalten gegenüber jemandem verändern, der eine Psychose durchlebt, oder wie rede ich mit ihm. „Psycho-Edukation für Angehörige gibt es in Bremen noch nicht“, bedauert Britta Pöplau. Fremd- und Eigengefährdung seien ein „großes Problem“, da erst bei deren Eintritt eingegriffen werden kann.

Trotz der stigmatisierenden, „heimtückischen Krankheit“ verbindet Andrea Roosch und Britta Pöplau im Prozess der Akzeptanz der Wesensveränderung und Trauer tiefe Mutterliebe mit ihren Söhnen. Dabei hilft ihnen die Erkenntnis, dass „ein Stück Persönlichkeit bleibt“, etwa ihre Sensibilität oder Kreativität.

Zur Sache

Woche zur Seelischen Gesundheit

Auch Bremen beteiligt sich an der bundesweiten Woche der Seelischen Gesundheit, die noch bis 20. Oktober läuft,  und bei der sich Selbsthilfeverbände, psychosoziale Einrichtungen und Initiativen ihre Hilfs- und Beratungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen vorstellen. Erstmalig werden in diesem Jahr für mehrere bremische Behörden und Institutionen diverse Veranstaltungen zur seelischen Gesundheit im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung angeboten. Mehr unter www.gesundheit.bremen.de.

Info

Der Elternkreis für Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, welche das Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Wollen und Verhalten der Patienten eigenartig verändern und das Erleben der Erkrankten durch Wahngedanken und Halluzinationen beeinflussen können, trifft sich zwei Mal im Monat montags von 18 bis 20 Uhr in den Räumen des Netzwerks Selbsthilfe, Faulenstraße 31. Eine Kontaktaufnahme ist über das Netzwerk Selbsthilfe unter der Telefonnummer 70 45 81 oder per E-Mail an info@netzwerk-selbsthilfe.com möglich.

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