Die Brandung schäumt und wirft die Gischt hoch auf. Die Wellen haben immer jede Menge Meeresgetier im Gepäck. Und so knarzen Austern, Herz- und Miesmuscheln bei jedem Schritt unter den Füßen am winterlichen Strand. Das Gesicht im Wind und Salz auf den Lippen geht es an der Nordsee entlang – im Ohr die ersten Zeilen von Heinrich Heines Gedicht „Sturm“: „Es braust und pfeift und prasselt und heult.“ Entstanden ist es auf Norderney. Zwischen 1825 und 1827 hat der Dichter dort prägende Aufenthalte verbracht und schrieb dort auch seinen „Nordsee-Zyklus“. Wer Glück hat, erlebt auf der Insel aber auch die Wintersonne und nutzt die Zeit zu langen Spaziergängen am Strand sowie in den Dünen.
Wer im Westen der Insel nur ein paar Schritte von der stürmischen See entfernt nächtigen möchte, logiert vielleicht im Hotel Seesteg – und übersieht es möglicherweise auf den ersten Blick. Von der Straße weist kein Schild den Weg zum Hotel, das Haus ist eher unauffällig. Kein Wunder, früher war es schließlich nur ein Schuppen: 1895 wurde das Backsteingebäude errichtet und diente in den stürmischen Wintern als Lager für die dort die Holzbohlen des Seestegs. Er wurde im selben Jahr wie der Schuppen gebaut, eine T-förmige Konstruktion aus Holz und Eisen. An seinem Ende war ein weiterer, etwa 100 Meter langer Quersteg angebracht, der den Gästen zur Promenade und zur Luftkur diente. 1000 Menschen konnten sich so über den Meereswogen aufhalten und die gesunde Brandungsluft einatmen.

Der eiserne Seesteg war um die Jahrhundertwende beliebt, um dort zu flanieren. Die Holzbohlen wurden im Winter im nahen Gebäude verstaut.
Mitte der 1920er-Jahre riss eine schwere Sturmflut den hölzernen Seesteg weg. Der steinerne Schuppen diente fortan den Norderneyer Strandkörben als Winterlager. Im Dezember 2006 kauften zwei Bremer Brüder, der Architekt Marc sowie der Hotelier Jens Brune, das Gebäude vom Land Niedersachsen. Es wurde zu einer Zeit kernsaniert, als Nachhaltigkeit noch nicht Einzug in den täglich Sprachgebrauch gefunden hatte. Brunes entschieden sich, das Gebäude – das nicht unter Denkmalschutz stand – in seiner Struktur zu erhalten. Ihre Detailversessenheit lässt sich an den ursprünglichen Materialien erkennen: Die alten Backsteine wurden durch 60.000 handgefertigte und kohlegebrannte Klinker ersetzt. Im Foyer und dem Restaurant bleibt der Blick an Holzbohlen hängen. „Die sind aus dem Dachstuhl des ehemaligen Schuppens und wurden wieder aufgearbeitet“, sagt Eva Daedlow-Behrend, seit mehr als acht Jahren Gastgeberin im Hotel Seesteg. Auch zwei Pfeiler sind noch aus dem alten Gebäude erhalten.
Ein Jahr benötigten die Brüder nach dem Kauf, um aus dem Schuppen ein elegantes, aber in seiner Optik dezentes Hotel zu machen. Das Haus mit Blick aufs Meer wirkt durch seine hanseatische Zurückhaltung. Dabei half auch der Zufall ein wenig mit. Im Jahr als die Brunes das Gebäude kauften, entschied sich das Land Niedersachsen, den Deich zu erhöhen. So hatten die Bremer die Chance, den Boden im Gebäude einen Meter anzuheben – und die Gäste schauen nicht auf den Deich, sondern auf die Nordsee.

Das grundsanierte Haus beherbergt heute das Hotel Seesteg.
Das Hotel Seesteg ist außerdem Mitglied im Verbund Relais & Châteaux. Die französische Hotel- und Restaurantvereinigung wurde 1954 gegründet. Aktuell zählt sie 580 Hotels und Restaurants auf der ganzen Welt als Mitglieder, davon 19 in Deutschland. Die meisten werden seit vielen Jahren von Familien geführt. Sie eint die Werte. „Qualität hat immer Vorrang vor Quantität“, sagt Susanne Gräfin von Moltke, Vorstandsmitglied der Vereinigung. Was die Mitglieder von Relais & Châteaux außerdem verbindet: Sie haben gute Restaurants mit oftmals ausgezeichneten Küchenchefs.
Das zeigt sich auch im Seesteg. Das angeschlossene Restaurant mit offener Küche ist das Reich von Chefkoch Markus Kebschull. Er hat sich – ganz aus Versehen, wie man in verschiedenen Genussmagazinen liest – einen Stern und 16 Punkte von Gault & Millau erkocht. Ein Wunder ist das nicht. Die Küche ist ausgezeichnet und kommt ohne jeden Schnickschnack oder Effekthascherei aus. „Entspannte Gourmetküche“ nennen das die einen, „modern-klassisch, mit saisonal-internationalen Einflüssen“, nennt Eva Daedlow-Behrend den Stil des Chefkochs. Serviert werden Klassiker wie Steak Frites oder eine südfranzösische Bouillabaisse. Gerichte wie Chaud Froid von der bretonischen Seezunge mit 5 G Imperial Kaviar, Avocado, Ponzu und Kokosnuss lassen dem Gast die unterschiedlichsten Aromen auf der Zunge zergehen. Das Gleiche gilt übrigens für eine herzhafte Crème Brûlée vom Epoisse – ein ausgeklügeltes Zusammenspiel verschiedenster Aromen und Texturen.
Obwohl im Norden der Republik ansässig, beschreibt Chefkoch Kebschull seinen Fokus als nicht ausschließlich regional-nordisch: „Was es im Norden an Lebensmitteln gibt, die in meinen Augen erstklassig sind, benutze ich – ohne dogmatische Einschränkungen.“ Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Frische der Produkte, ihrer Qualität und ihrem Geschmack.
So entspannt wie in der Küche geht es auch im cool-gemütlichen Restaurant zu: Kein steifer Service, keine weißen Tischtücher, und die Gäste müssen sich auch an keine Kleiderordnung halten. Und so sieht man abends neben Schlips und Kragen das kleine Schwarze, aber eben auch mal einen Mann im Kapuzenpulli oder eine Frau in einer Lederjacke. Das Seesteg ist eben ein Restaurant, das ganz nah am Strand liegt.

Wenn man sich dick einpackt, kann man eine Inselrundtour mit dem Fahrrad machen: Zunächst geht es am Wattenmeer entlang und schließlich durch die Dünen zurück in die Stadt.
Wenn im Winter der Raureif die Insel mit einer weißen Puderschicht überzogen hat und der Wind um das Klinkergebäude pfeift, ist den meisten Gästen verständlicherweise das Meer zu kühl. Wer trotzdem unter freiem Himmel seine Bahnen ziehen will, kann das im 25 Meter langen Pool auf der Dachterrasse mit Blick über die weite See. Am besten hat man vorher noch einen morgendlichen Strandspaziergang gemacht.
Dick eingemummelt geht es die wenigen Meter über den Deich an den Strand. Auch wenn die Sonne scheint, sind kaum noch Menschen unterwegs, sobald die Promenade endet. Wer es schafft, läuft am Strand weiter bis zu einer der Aussichtsplattformen. Dort hat man einen schönen Ausblick über die Insel. An der Plattform Zuckerpad, die Mark Brune entworfen hat, begleiten Informationen zum Wattenmeer den Weg nach oben. Wenn der Wind dort ordentlich pfeift, hält man es zwar nicht lange oben aus, aber man hat die Plattformen meist für sich allein. Wer ein Fernglas bei sich hat, sieht dort vor allem im Winter schon mal Damwild, das auf der Suche nach Futter bis in das Stadtgebiet vordringt. Es wurde in den 1960er-Jahren auf der Insel ausgewildert und hat sich mittlerweile dort etabliert. Die Population ist wechselnd, da die Tiere über das Watt zwischen Insel und Festland wandern. Das wurde lange abgetan, aber 2016 gelang es Nationalparkrangern Fotos von Tieren im Watt zu machen.

Im Winter hat man den Strand auf Norderney meist für sich.
Im Winter gibt es auf der Ostfriesischen Insel wenige Touristen und dafür viel Platz. Die Partyinsel wird dann zum Ruheort. „Aber sie schläft nicht ein“, sagt Eva Daedlow Behrend. Und so bleibt zwischen Strandspaziergang und kurzer, winterlicher Radtour, Shopping und Saunagängen genug Zeit für ein gutes Buch oder einen Discobesuch. Zwar sind nicht alle Lokale geöffnet, doch das Nachtleben liegt auch nicht im Winterschlaf. Wer nach nächtlicher Abwechslung sucht, wird sie finden. Alle anderen genießen den Blick aufs Meer und die Stille auf Norderney.
Die Reise wurde unterstützt von Relais & Châteaux.