Wenn der Tod Menschen aus dem Leben reißt, bleiben Angehörige und Freunde meist fassungslos mit einer Leerstelle zurück. Sie sinnvoll zu füllen, kostet Kraft und Zeit.
So ist es auch mit dem künstlichen Hügel, den Sigurd Lewerentz im Süden der schwedischen Hauptstadt Stockholm hat aufschütten lassen. Wer hinauf möchte, den erwartet eine lange Steintreppe ohne Geländer. Die ersten Stufen sind hoch. Mancher kommt da vielleicht außer Atem. Doch je mehr man Höhe und Überblick gewinnt, einen klaren Kopf bekommt, desto leichter fällt der Weg. Lewerentz hat nämlich nachgeholfen und die Stufenhöhen zunehmend abgesenkt. Fast federleicht geht man die letzten Schritte zum Gipfel auf den Meditationslund und hat ein ganzes Totenreich zu Füßen, in dem auch Lebende gern gesehen sind.
Stockholm hat sich erst spät auf den Weg in die Moderne gemacht. Erst nach 1850 setzte die Industrialisierung ein, nachdem zuvor Norköpping und Göteborg zu den größten Städten des Landes herangewachsen waren. Um die Wende zum 20. Jahrhundert platzte die Stadt auf 14 Inseln jedoch aus ihren alten Grenzen heraus. Elendsquartiere und Villenorte an der Küste ragten weit hinaus ins Land und wurden mit Straßenbahnen angebunden. Auch auf den alten Friedhöfen im Stadtzentrum herrschte drangvolle Enge.
Während im Rest Europas der Erste Weltkrieg ausbrach, ging die Stadtverwaltung deshalb 1915 einkaufen. Auf dem erworbenen Gelände einer Kiesgrube und ungenutzten Sandflächen mit lichtem Koniferenbestand sollte ein neuer Friedhof entstehen. „Neu auch in seiner Form“, sagt Elisabeth Daude. Die Stockholmerin, die in Bremen aufgewachsen ist, kennt den Skogskyrkogården, den Waldkirchgarten, wie ihre Handtasche. Sie weiß auch, warum Architekten aus aller Welt seit Jahrzehnten dorthin pilgern, und warum das Gesamtensemble seit 1994 zum Weltkulturerbe der Unesco gehört. „Auch der Tod ist Teil der Natur. Das wird hier deutlich und macht es Lebenden leichter“, sagt Daude.

Die Architekten Sigurd Lewerentz und Gunnar Asplund haben auf 108 Hektar Fläche ein Totenreich mitten in der Natur geschaffen.
Das Erste, was in diesem Zusammenhang auffällt, ist die Weite. Zwar ist die gesamte Anlage mit einer hohen Mauer aus Natursteinen umgeben, die Arbeitslose in den 1930er-Jahren aufgeschichtet haben. Doch die ist 3,3 Kilometer lang. Drinnen fühlt man sich auf satten 108 Hektar Fläche teils wie in einem großen englischen Landschaftspark, teils wie in einem Nadelwald. Nur dass Grabsteine oder kleine Plaketten fast dezent an die eigentliche Bestimmung erinnern.
Eingefasste Gräberfelder mit großen Monumenten, Marmorplatten und üppiger Grabgestaltung gibt es dagegen nicht. Selbst die Grabstätte einer Grande Dame wie Greta Garbo, der wohl prominentesten Toten auf dem Waldfriedhof, fällt da kaum aus dem Rahmen.
Die Architekten Sigurd Lewerentz und Gunnar Asplund haben sich das alles gut überlegt. Ihr Gestaltungskonzept mag am Ende fast so schlicht aussehen wie skandinavisches Design heute. Aber die beiden, 1915 noch Berufsanfänger von jeweils 32 Jahren, waren Pedanten ihres Fachs. Mehr als 10.000 Blätter haben sie mit Skizzen und Plänen gefüllt, bis der Waldfriedhof 1940 endlich fertig war. Im selben Jahr ist Asplund gestorben und wurde selbst auf dem Skogskyrkogården beigesetzt. Inspiriert hat Asplund erenz wohl der Waldfriedhof in München, den Stadtbaurat Hans Gässel 1907 eröffnet hatte. Später haben sie selbst wiederum über ihren Kontakt zu Johannes Ludwig die Münchener Architekturschule nachhaltig geprägt.

Ein Weg führt zur Auferstehungskapelle.
In Stockholm hatten sie die Vorgabe, möglichst wenig an den natürlichen Gegebenheiten zu ändern und möglichst klare Strukturen zu schaffen. Sie haben daraufhin ein Gelände gestaltet, das Stockholmer Bürger unterschiedlichster konfessioneller und weltanschaulicher Richtungen zu schätzen wissen.
Sowohl die kleine Waldkapelle von 1917 als auch die Kapelle zum Heiligen Kreuz verzichten weitgehend auf christliche Symbolik. Die mächtige, klassizistisch inspirierte Kolonnadenhalle davor, deren Säulen sich in einem Teich spiegeln, wirkt monumental und einladend offen zugleich. Drinnen soll die Bronzeplastik „Die Auferstehung“ von John Lundquist ohne speziell christliche Assoziationen Trost spenden. Aus der Erde gezogen recken die Verstorbenen sich auf und ihre Arme dem Himmel über dem offenen Lichthof entgegen.
An einem Sonnabendmorgen im Oktober ist auf dem Skogskyrkogården schon Betrieb. Eine junge Mutter spaziert mit ihrer kleinen Tochter an der Hand den Meditationslund mit seinem kleinen Ulmenhain auf der Spitze hinunter in Richtung der Allee der fünf Brunnen. Die wurden zwar nie gebaut, aber die Sichtachse trägt trotzdem ihren Namen. Auf einer Länge von 888 Metern führt sie durch den schattigen Kiefernwald schnurgerade zur Kapelle der Auferstehung. Unterwegs sieht man nur wenige Menschen mit einer Gießkanne oder mit frischen Blumen für die kleinen Grabflächen. Aber ein paar Jogger laufen vorbei. Ein Mann führt seinen Hund aus, einige Touristen fotografieren.
Mehrfach am Tag fährt ein Linienbus auf einer kurvigen Zufahrtsstraße über das riesige Areal. Es gibt sogar ein Café auf dem Gelände. „Warum nicht?“, fragt Elisabeth Daude. Nur Picknicks seien verpönt. Auf dem weitläufigen Areal könne jeder seine Form des Innehaltens finden. Wenn irgendwo ein paar Kinder spielten, werde das die Toten schon nicht stören. Und zu Allerheiligen, wenn es in Stockholm bereits früh, um 15.30 Uhr, dämmert, wird der gesamte Wald in einem Meer roter Kerzen erleuchtet.

Die Bronzeplastik von John Lundquist soll ohne christliche Symbolik Trost spenden.
90 Prozent aller Verstorbenen in Schweden werden verbrannt. Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits und Stifter der Nobelpreise, hat sich zeitlebens dafür stark gemacht. So schloss der Bau eines großen Krematoriums 1940 auch die Anlage des Waldfriedhofs ab. „Aber wie die Familien mit ihren verstorbenen Angehörigen umgehen, unterscheidet sich doch erheblich“, sagt Daude. Zuerst waren nur Wald- und Wiesenflächen vorgesehen. Dort kann die Asche in einem kleinen Säckchen aus Seide verpackt anonym oder mit einem kleinen Schild bestattet werden. Im vorderen Bereich gibt es konventionelle Urnenwände, angeordnet und gestaltet wie eine Reihenhaussiedlung des frühen 20. Jahrhunderts.
Im Wald liegen heute Reihen kleiner Gräber mit eigenem Stein. Und auf einer natürlichen Moräne im Hintergrund kann die Asche auf einem festgelegten Areal auch verstreut werden. „Das ist dann die sinnbildlichste Form, wieder ein Teil der Natur zu werden“, findet Daude.
Die Reise wurde unterstützt von Visit Sweden.