S o weit wie Helgoland ist keine andere deutsche Insel vom Festland entfernt. Zwischen der Insel und Bremerhaven liegen mehr als 80 Kilometer. Wer Helgoland mit einem Schiff erreichen möchte, ist Stunden unterwegs. Noch vor einigen Tausend Jahren war der rote Buntsandsteinfelsen ein weithin sichtbares Wahrzeichen inmitten einer Graslandschaft. Wer wollte, konnte zu Fuß dorthin gelangen. Das Beispiel der Insel zeigt schlaglichtartig, dass die Erde ein Planet im ständigen Wandel ist. Mit der Erforschung der Veränderungen im Gebiet der Deutschen Bucht während der vergangenen Jahrtausende befassen sich neben anderen auch Geologen der Arbeitsgruppe von Professor Tobias Mörz am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) der Universität Bremen.
Dass sich das Erscheinungsbild der Erde und die Lebensverhältnisse wandeln, hat eine ganze Reihe von Gründen. Zu diesen gehören Veränderungen der Sonneneinstrahlung, das heißt der Energiemenge, die in die unterschiedlichen Bereiche des Blauen Planeten gelangt. Bei ihrem Lauf um die Sonne ist die Erde den Anziehungskräften anderer Planeten ausgesetzt – mit der Folge, dass ihre elliptische Bahn ihre Form in großen Zeiträumen leicht verändert. Die Achse, um die sich die Erde dreht, trudelt, und außerdem ist sie geneigt, zurzeit um gut 23,4 Grad. Diese Neigung der Erdachse schwankt in einem Zyklus von 41 000 Jahren zwischen etwa 21,5 und 24,5 Grad. Geowissenschaftler verbinden die genannten Schwankungen mit dem Begriff Milankovic-Zyklen. Er erinnert an den Astrophysiker Milutin Milankovic (1879 bis 1958), der einen Zusammenhang zwischen der veränderten Sonneneinstrahlung und dem natürlichen Klimawandel, genauer: dem Wechsel von Warm- und Kaltzeiten hergestellt hatte. Diese Ausdrücke bezeichnen längere Phasen mit höheren beziehungsweise niedrigeren Durchschnittstemperaturen.
Eine ausgedehnte Kaltzeit gab es zum Beispiel vor etwa 420 000 bis 300 000 Jahren. Zu jener Zeit war Norddeutschland von Gletschern bedeckt. Die bislang letzte Kaltzeit begann vor etwa 115 000 Jahren und endete vor rund 11 700 Jahren. Sie wird nach dem polnischen Fluss Weichsel als Weichsel-Kaltzeit bezeichnet. Auf ihrem Höhepunkt lag Skandinavien unter einer kilometerdicken Eisdecke. Die Gletscher reichten damals bis zum Nordosten Deutschlands. Weil große Mengen Wasser im Eis gebunden waren, lag der Meeresspiegel wesentlich niedriger als heute, vor 20 000 Jahren um etwa 120 Meter. Als das Eis zu schmelzen begann, stieg der Meeresspiegel an. Dass sich dies auch im Gebiet der Deutschen Bucht bemerkbar machte, liegt auf der Hand. Vor etwa 10 000 Jahren befand sich die Küstenlinie Hunderte Kilometer weiter nördlich als heute, nämlich zwischen Skagen im Norden von Dänemark und Nordengland. Die Landmasse, aus der unter anderem Helgoland herausragte, wird von Wissenschaftlern als Doggerland bezeichnet – in Anlehnung an die Doggerbank, die sich heute als etwa 300 Kilometer lange und bis zu 120 Kilometer breite Sandbank in der südlichen Nordsee befindet. Vor Tausenden von Jahren handelte es sich bei ihr um eine Hügelkette.
Auf den Spuren der Ur-Ems
Zuletzt hat das Bild, das Wissenschaftler von der Region gewonnen haben, immer feinere Züge bekommen. Wie der Geowissenschaftler Daniel A. Hepp aus der Arbeitsgruppe von Professor Mörz erklärt, haben seismische Untersuchungen und Untersuchungen von Sedimenten wesentlich dazu beigetragen. Bei den Sedimenten handelt es sich um Material, das im Laufe der Erdgeschichte abgelagert wurde und sich heute unter dem Meeresboden befindet. Bei seismischen Untersuchungen schicken Experten wie Hepp mit Geräten energiereiche Schallwellen in Richtung Meeresgrund. Diese Wellen werden an Grenzflächen im Untergrund reflektiert, also dort, wo sich unterschiedliche Sedimente mit unterschiedlicher Dichte überlagern. Aus der Laufzeit der reflektierten Wellen lassen sich Rückschlüsse auf Strukturen ziehen, ähnlich wie bei der unter anderem für medizinische Zwecke eingesetzten Ultraschalltechnik. So lässt sich zum Beispiel erkennen, ob es Sand- oder Torfschichten gibt. Seismische Untersuchungen helfen nicht nur bei der erdgeschichtlichen Grundlagenforschung, sondern zum Beispiel auch, wenn es gilt, vor dem Bau von Windkraftanlagen Informationen über den Baugrund zu gewinnen.
Vor ungefähr 10 000 Jahren mündete ein Strom etwa auf Höhe der Doggerbank in einem bis zu 50 Kilometer breiten Tal in die damalige Nordsee. Gespeist wurde dieses sogenannte Elbe-Urstromtal unter anderem durch Zuflüsse der Eider, Weser und Ems. Bei der Auswertung von Daten, die bei seismischen Untersuchungen in der Nordsee gewonnen worden waren, sind Hepp und seine Kollegen auf Strukturen eines sich windenden – mäandrierenden, wie Fachleute sagen – Flussbettes gestoßen. Laut Hepp handelt es sich dabei sehr wahrscheinlich um die Ur-Ems. Die Windungen oder Mäander haben zur Folge, dass dort, wo strömendes Wasser in Kurven gegen das Ufer prallt, Material abgetragen wird. An der gegenüberliegenden Seite des Flusses kann sich hingegen wegen der geringeren Fließgeschwindigkeit des Wassers mitgeführtes Material ablagern. Die Unterschiede lassen sich mithilfe seismischer Untersuchungen erkennen, sprich: Die Forscher konnten den Flusslauf rekonstruieren. Sie fanden Hinweise auf ein 500 bis 1000 Meter breites Flusstal, das etwa 70 Kilometer nordöstlich der heutigen Ems-Mündung ins Elbe-Urstromtal mündete.
Aus der Untersuchung von Sedimentproben zogen die Wissenschaftler den Schluss, dass das Flusstal gegen Ende der Weichsel-Kaltzeit entstanden sein muss. In jüngeren Proben fanden sie auch Torf, der auf die Zeit vor etwa 10 500 Jahren zurückgeht. Diesen werten sie als Hinweis, dass manche Bereiche bereits unter dem Einfluss des steigenden Meeresspiegels standen. Von Torf sprechen Fachleute, wenn der Anteil an unvollständig abgebautem Pflanzenmaterial am Gemisch aus Wasser und anderen Stoffen im Boden ein bestimmtes Maß erreicht. Torf entsteht in Mooren, in denen ein hoher Wassergehalt zu einem Sauerstoffmangel und dazu führt, dass die Reste von Pflanzen nicht vollständig abgebaut werden.
Wie Hepp erläutert, ist der genaue Verlauf der Ur-Ems bislang nur bis etwa zehn Kilometer nördlich der Insel Juist bekannt. Weitere Untersuchungen seien für das nächste Jahr geplant. Dabei solle geklärt werden, wie der Flusslauf weiter südlich ausgesehen habe.
Dass im Bereich von Doggerland vor Tausenden Jahren Menschen gelebt haben, ist erwiesen. Archäologen stießen unter anderem auf Faustkeile, Feuersteinklingen und Spitzen aus Geweih- beziehungsweise Knochenmaterial, die offenbar für Waffen verwendet worden waren. Schon während der letzten Kaltzeit – vor mehr als 40 000 Jahren – scheint das Gebiet besiedelt gewesen zu sein. Als sich die Gletscher zurückzogen, verwandelte sich die Tundra, die offene, baumlose Landschaft mit kleinen Pflanzen, in eine feuchte Graslandschaft mit Birken und Kiefern. Nach den Erkenntnissen von Forschern gab es dort neben Flüssen auch Bäche und flache Seen. Mit dem Meeresspiegel stieg gegen Ende der Kaltzeit auch das Grundwasser, sodass Moore entstanden. An der Erforschung von Doggerland war in den vergangenen Jahren neben dem Zentrum für Marine Umweltwissenschaften auch das Deutsche Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven beteiligt. Es hatte vom Bundesministerium für Bildung und Forschung den Auftrag erhalten, auch außerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone, das heißt außerhalb des sogenannten Küstenmeers, Wracks zu kartieren. Den Hintergrund bildeten Pläne, Standorte für Offshore-Windparks zu erschließen. Durch den Bau von Fundamenten für Windkraftanlagen können wichtige geschichtliche Zeugnisse zerstört werden. Forscher aus Großbritannien, den Niederlanden und Dänemark haben schon vor langer Zeit damit begonnen, nach solchen Zeugnissen im Gebiet von Doggerland zu suchen.
12 000 Jahre alte Harpune
Hinweise darauf, dass es sich bei der südlichen Nordsee einst um ein Landgebiet gehandelt hat, lieferten auch Knochen von Landtieren, die Fischer in ihren Schleppnetzen fanden. Unter den Fundstücken waren unter anderem Mammut- und Rentierknochen aus der letzten Kaltzeit. Großes Aufsehen erregte ein Fund, den britische Fischer 1931 machten. Bei dem mehr als 21 Zentimeter langen Knochenstück mit Widerhaken handelte es sich um ein Artefakt, das heißt ein von Menschen geschaffenes Erzeugnis. Experten deuteten den Fund als Harpune. Das Alter des Stücks wird mit etwa 12 000 Jahren angegeben.
Vor rund 8000 Jahren war der Meeresspiegel so weit angestiegen, dass Doggerland überflutet war. Die weitere Entwicklung der Nordsee lässt sich auch an der Entstehung der Inseln ablesen. So haben die Professoren Dierk Hebbeln und Gerold Wefer vom Zentrum für Marine Umweltwissenschaften in einem Buchbeitrag darauf hingewiesen, dass die Geschichte der Ostfriesischen Inseln in die Zeit vor etwa 7500 Jahren zurückreiche, als der Meeresspiegel noch etwa 20 Meter niedriger gelegen habe als heute. Damals seien unter dem Einfluss der Wellen und Gezeiten Strandwälle entstanden, die dann später wegen des steigenden Meeresspiegels nach Süden gewandert und vom Festland getrennt worden seien. Dass sich das Nordseegebiet weiter verändern wird, steht außer Frage, wie Tobias Mörz betont.
Der Meeresspiegel steigt nach wie vor, und das Vordringen des Meeres wird für den Menschen auch in Zukunft eine große Herausforderung bleiben.