Philipp Grassel: Allgemein gesprochen geht es um Kriegswracks und Munitionslasten in der Nordsee.
Das hört sich spannend an, können Sie das näher erläutern?Seit 2018 läuft das von der EU geförderte internationale Projekt „North Sea Wrecks“. Es widmet sich der wissenschaftlichen Erforschung sowie der politischen und historischen Aufarbeitung der Problematik von verklappter Munition, Kriegswracks und der daraus resultierenden Umweltverschmutzung und Kontaminierung in der Nordsee.
Das Projekt wird von der EU gefördert?Ja, es ist in der Nordsee ein Pionierprojekt. In der Ostsee wurden zu diesem Thema schon sehr viel mehr Daten gesammelt. Dort habe ich auch an diversen Tauchgängen teilgenommen. Für das Projekt in der Nordsee stellt die EU vier Millionen Euro über einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung. Das Projekt „North Sea Wrecks“ möchte mithilfe von grenz- und forschungsübergreifenden Methoden die wissenschaftliche Kooperationsstruktur zwischen den Anrainerstaaten der Nordsee ausbauen. Daraus soll eine gemeinsam Strategie zur Bewältigung der wirtschaftlichen, ökologischen und sicherheitsrelevanten Herausforderungen entwickelt werden, die durch Schiffs- und Flugzeugwracks, verlorene Ladung, deponierten chemischen Abfall und Munition entstehen.
Wer ist an dem Projekt beteiligt?Neun europäische Institutionen arbeiten hierfür eng auf verschiedenen Ebenen zusammen, die Koordination übernehmen wir vom Deutschen Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM). Mit von der Partie sind neben dem DSM unter anderem das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, das Vlaams Instituut voor de Zee, Aarhus University – Department of Geoscience, Stichting NHL Stenden Hogeschool – Maritiem Instituut Willem Barentsz, EGEOS GmbH, Periplus Consultancy BV, Forsvarets Forskningsinstitutt sowie das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Institut für Toxikologie und Pharmakologie. Den Vorsitz des internationalen Advisory Board (Beirat, Anmerkung der Redaktion) hat das Referat „Munition im Meer“ des Ministeriums für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung in Kiel. Das Konsortium identifiziert, kartiert und bewertet die Standorte von Wracks, Ladung und Abfällen am Meeresboden.
Woher wissen Sie denn, wo Sie nach Wracks suchen müssen?Es gibt verschiedene Archivquellen, beispielsweise das Militärarchiv in Freiburg. Wir können anhand von Verlustdaten von militärisch genutzten Schiffen nachvollziehen, wo diese ungefähr liegen oder wo es Verklappungsgebiete gibt.
Verklappungsgebiete?Ja. Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg, diesen Zeitraum umfasst unser Forschungsprojekt, wurde Munition im Meer versenkt.
Und diese Wracks beziehungsweise die Munition sind gefährlich?Wir betreiben Grundlagenforschung über die Gefährlichkeit von Treibstoffen und Munition und über Wracks als Gefahrenquelle beziehungsweise wie gefährdet diese Wracks sind.
Wie genau habe ich mir die Grundlagenforschung vorzustellen?Wir untersuchen Biosubstrat, Muscheln und Fische auf Rückstände, beispielsweise von TNT. Unter anderem werden Miesmuscheln in der Nähe des Wracks auf verschiedenen Höhenebenen ausgebracht und später untersucht. Als Gegenprobe untersuchen wir Miesmuscheln aus Gegenden, in denen keine Rückstände zu erwarten sind. Darüber hinaus nehmen wir Kratzproben, idealerweise direkt vom Wrack. Wir untersuchen auch die Stabilität und Dichte des Baumaterials, das ist bei Kriegsschiffen anhand ausführlicher technischer Daten relativ einfach nachzuvollziehen. So können wir den Abrieb berechnen, können feststellen, ab wann ein Verfall kritisch wird und wann entsprechender Inhalt vor einer Freisetzung geschützt werden muss.
Wie schwierig sind solche Forschungen unter Wasser?Unterwasser-Forschungen sind immer schwierig. In der Nordsee vermutlich etwas schwieriger als in der Ostsee. In der Deutschen Bucht, also unserem Suchgebiet, herrscht darüber hinaus ein großer Tidenhub, es gibt viel Sedimentbewegung am Grund, das macht das Sehen schwierig.
Sie werden auch selber tauchen?Ja. Im Rahmen meines Archäologiestudiums habe ich mich auch zum Forschungstaucher ausbilden lassen. Ob und wann ich zum Einsatz komme, hängt allerdings auch vom Wetter und noch einigen anderen Faktoren ab.
Wann geht es denn los?Derzeit sind wir noch in den Vorbereitungen. Geplant ist, mit dem deutschen Forschungsschiff „Heincke“ ab Mai 2020 die von uns definierten Gebiete mit Robotern, Laserscans, aber auch Tauchern zu erforschen.
Wie viele Gebiete haben Sie für das Forschungsprojekt festgelegt?Das deutsche Team hat fünf Gebiete festgelegt, die als Fallbeispiele gelten sollen. Die Belgier sammeln aktuell an zwei Wrackstellen Daten.
Wie viele Wracks könnte das deutsche Team denn rein theoretisch untersuchen?Also, wir wissen, dass es mindestens 120 Wracks aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in der Deutschen Bucht gibt.
Das Projekt ist auf vier Jahre ausgelegt?Ja, drei Jahre davon Forschung. Bis Ende 2020 sollte die Grundlagenarbeit beendet sein. Anhand der erforschten Einzelbeispiele soll es dann mit Hochrechnungen eine Gefährdungspotenzialanalyse geben. Das heißt, für Entscheidungsträger wird es Hinweise geben, in welchem Bereich die Gefährdung für die Umwelt oder Baumaßnahmen, beispielsweise Offshore, wie hoch ist und ob Handlungsbedarf beispielsweise durch Bergung besteht.
Und im vierten Jahr?Unter der Leitung des Deutschen Schifffahrtsmuseums soll mit dem Projekt eine Wanderausstellung entworfen und produziert werden, die dann ab 2021 über die Forschungsergebnisse informieren wird. So soll allgemein das Bewusstsein für das Vorhandensein möglicher Gefahrenquellen in der Nordsee gefördert werden.
Das Forschungsprojekt wollen Sie nun also in der Burg Blomendal vorstellen?Ja, mit einigen Grafiken und viel Bildmaterial von Tauchgängen in der Ostsee möchte ich dem interessierten Publikum das Forschungsprojekt „North Sea Wrecks“ näherbringen.
Das Gespräch führte Iris Messerschmidt.Philipp Grassel (35)
ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Schifffahrtsmuseum und an der Universität Bremen. Sein Forschungsfeld sind Wracks, versunkene Landschaften, Häfen und Hafenanlagen sowie die historische Archäologie. Seine Fachdisziplinen sind maritime Archäologie, Unterwasserarchäologie, klassische Archäologie und wissenschaftliches Tauchen.
Weitere Informationen
Aktuelles Forschungsprojekt
Archäologe Philipp Grassel stellt das aktuelle Forschungsprojekt des Schifffahrtsmuseums Bremerhaven „Kriegswracks und Munitionslasten in der Nordsee“ am Donnerstag, 24. Oktober, in der Burg Blomendal, Auestraße 9, vor. Beginn ist um 19 Uhr im Rittersaal. Der Eintritt beträgt zwei Euro für Erwachsene. Mitglieder des Vereins Burg Blomendal, Schüler und Studenten zahlen nichts.