Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Niels-Högel-Prozess In diesem Verfahren ist vieles neu

Das Landgericht Oldenburg bietet nicht genug Platz für so ein aufwendiges Verfahren. Also wird der Prozess in den großen Festsaal der Weser-Ems-Halle verlegt.
29.10.2018, 23:27 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
In diesem Verfahren ist vieles neu
Von Nico Schnurr

An dem Ort, wo bald über 99 – womöglich hundert – Morde verhandelt werden soll, erfuhren Besucher noch vor einigen Wochen, wie es gelingt, die Seele reinzuwaschen. In der Weser-Ems-Halle, obere Etage, großer Festsaal, ging es um Ruten, Pendel und die Kraft von Edelsteinen. Eine Esoterikmesse war im September zu Gast in Oldenburg. Die Heiler hatten die Abiturienten abgelöst, die im Sommer über den Parkettboden des Festsaals gerutscht waren, durch ihre Bierpfützen, hinein in ein Leben nach der Schulzeit. Mehrzweckhallen-Standard. Filmfest, Kramermarkt-Party, Zauber-Show, immer so weiter, ein Programm wie in jedem Jahr. Bis zum 30. Oktober.

Dann wird die Halle zur Nebenstelle des Landgerichts Oldenburg. Dann werden sie draußen, vor den Hallentüren, ein Amtsschild anschlagen, darauf das Niedersachsenross. Drinnen, im großen Festsaal, werden sie einen Richtertisch aufbauen, Zeugenbänke, Plätze für Nebenkläger, Verteidiger, Journalisten. Und dann beginnt in der Weser-Ems-Halle ein Prozess, für den selbst der geräumigste Saal des Oldenburger Landgerichts viel zu klein wäre: das wohl größte Mordverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Jahrhundertprozess.

Im Festsaal, dort, wo sie sonst das Leben feiern, wird sich der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel für den Tod von 99 Patienten an den Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg verantworten müssen. Sollte der Mord, den Högel zuletzt gestanden hat, noch in die Anklage aufgenommen werden, dann sind es sogar hundert Fälle. Das Verfahren wird allein um Högel kreisen, die Schuld der Klinikmitarbeiter soll erst in einem späteren Prozess verhandelt werden.

Lesen Sie auch

Das Gericht will alle Mordvorwürfe einzeln behandeln, Gutachter werden angehört, Zeugen befragt. Ein Prozess, mit so viel logistischem Aufwand verbunden, dass er das Gericht schon herausfordert, bevor er überhaupt begonnen hat. Mitte September, Wochen vor Prozessbeginn, hatte das Landgericht in den Festsaal geladen, ein Informationstag für Medienvertreter. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Botschaft: Das Landgericht ist sich der Dimension dieses Prozesses bewusst. Man will gar nicht erst so tun, als wäre das ein Verfahren wie jedes andere.

„Es wird in diesem Prozess vermutlich viele erste Male geben, so neu ist das auch für uns“, sagte Sebastian Bührmann. Dem Vorsitzenden Richter geht es darum, in den kommenden Monaten „soweit wie möglich Klarheit zu schaffen“. Ein Versuch der Wahrheitsfindung. „Wir können nur hoffen, so viel wie möglich ans Tageslicht zu bringen.“ Die Staatsanwälte werfen Högel vor, seine Opfer zu Tode gespritzt zu haben, heimtückisch, aus niederen Beweggründen. Kein bekannter Serienmörder in der Geschichte der Bundesrepublik hat mehr Menschenleben ausgelöscht. Wegen sechs Taten ist Högel bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Inzwischen füllt der Fall Regalwände: die Akten der Ermittler, die Untersuchungen der Mediziner, die Gutachten zu den Exhumierungen. Für das Verfahren hat sich das Landgericht einen Schrank auf Rollen anfertigen lassen, der sowohl in den Festsaal als auch in die Räume des Landgerichts passt. Beim Medientag im September fehlten die Aktenschränke mit den Prozessordnern noch. Alles andere war schon da.

Vor einer vier Meter hohen Akustikwand stand der Richtertisch etwas erhöht, davor eine Holzblende. Auf dem Parkett, das glänzte, als wäre es frisch geölt worden, lauter Stühle. Einige hundert waren es, alle sahen gleich aus, bordeauxrote Polster, silberner Rahmen. Links hinten die Journalistenplätze, 80 Sitze, rechts daneben der Bereich für die Öffentlichkeit: fast 200 Stühle.

Das Gericht wird die Plätze an jedem Prozesstag neu vergeben. Gewartet wird vor der Halle, die Ankunft zählt. Wer am längsten gewartet hat, bekommt zuerst einen Sitzplatz zugesprochen. Vor der interessierten Öffentlichkeit werden die Nebenkläger sitzen, 126 sind es, rechts vorne ihre 17 Anwälte.

Der Medientag im September sollte ein Testlauf sein, er sollte zeigen: In dieser 700 Quadratmeter großen Mehrzweckhalle, wo Menschen meist zusammenkommen, um ausgelassen zu sein, funktioniert auch eine so ernste Angelegenheit wie ein Mordprozess. Denn neben dem logistischen Aufwand, dem Transport der Akten, dem Auf- und Abbau des ganzen Gerichtsaal-Provisoriums für je zwei Prozesstage hintereinander, ist das die vielleicht größte Aufgabe, vor der das Gericht stehen wird: Es wird dafür sorgen müssen, dass aus einer Festhalle ein würdevoller Gerichtssaal für ein Mordverfahren wird. Damit sich dieser Prozess, an dem so wenig gewöhnlich ist, zumindest etwas gewöhnlich anfühlt.

„Uns ist es sehr wichtig, zum Ausdruck zu bringen, wie ernst wir die Sache nehmen“, sagte Melanie Bitter, Sprecherin des Landgerichts im September. „Der Saal ist aber so neutral, dass man ihm die sonstigen Veranstaltungen nicht ansieht.“ Und überhaupt, sagte sie, gebe es keinen anderen Raum in Oldenburg, der so viel Platz biete. Keine andere Option, der Festsaal sei „alternativlos“.

Der Ort des Geschehens, Weser-Ems-Halle, obere Etage, großer Festsaal, das sei am Ende nicht ausschlaggebend. „Ein Raum, in dem irgendwelche Bilder von Justitia hängen, würde dem Prozess nicht mehr Würde verleihen“, sagte Melanie Bitter. „Das ist die Aufgabe des Gerichts: Es wird die Würde mit sich tragen.“

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)