Frau Schimmler, Ihr Buch wirkt authentisch und geht unter die Haut, weil Sie anhand vieler Fallbeispiele Ihre eigenen Erfahrungen einfließen lassen.
Ute Schimmler : Ich unterrichte seit 42 Jahren an Grundschulen, zunächst war ich an der Schule Am Wasser und anschließend Am Pürschweg tätig. Für mein Buch habe ich jedoch auch den Stand der Inklusion in anderen Bundesländern recherchiert. Das Interesse an meinem Buch ist groß, mich wundert nur, dass ausgerechnet in Bremen wenig Resonanz festzustellen war.
Dabei gilt Bremen doch als Vorreiter bei der Inklusion. Schließlich hat Bremen mit der Schulreform im Jahre 2009 als erstes Bundesland den Anspruch auf Inklusion in sein Schulgesetz aufgenommen. Inzwischen gehen nur noch 1,2 Prozent der Kinder in Förderschulen, fast alle wurden integriert.
Bremen ist Vorreiter, was die Zahlen betrifft, nicht aber in Bezug auf die Qualität. Die Politik in Bremen will bestimmte Quoten einhalten, ohne die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben.
Welche Schulnote würden Sie dem Bundesland Bremen geben, wenn Sie Inklusion bewerten müssten?
Die Note „mangelhaft“. Mit dieser Bewertung werden zwar eindeutige Mängel festgestellt, doch Potenzial zur Verbesserung ist auf jeden Fall auch da. Das setzt jedoch erheblich mehr Personalmittel voraus.
Aber woher soll das Geld kommen?
Es wird doch so viel Geld für unsinnige Projekte ausgegeben. Denken Sie in Bremen-Nord nur an das Blaue Band oder an die Markthalle. Ich könnte unzählige weitere Beispiele nennen.
Wie ist die Situation in Ihren eigenen Schulklassen?
An unserer Schule, die in einem sozialen Brennpunkt liegt, haben wir nur zwei Sonderschullehrerstellen für die gesamte Schule. Ich habe als Grundschullehrerin nur stundenweise eine Sonderpädagogin in der Klasse, die mich unterstützt. Sie kümmert sich um die Kinder mit Förderbedarf und unterrichtet sie auch. Doch das ist zu wenig Personal. Meine Forderung lautet: mindestens eine Doppelbesetzung aus Lehrkräften für den Regelunterricht und/oder aus Sonderpädagogen, und zwar durchgehend.
Das würde eine erhebliche Personalaufstockung in den Schulen voraussetzen.
Ja, aber wenn man kein Geld hat, kann man Inklusion eben nicht machen. In Bremen wurde von Anfang an ein Sparmodell gefahren, mit dem Inklusion nicht funktionieren konnte. Aber wenn nur eine Lehrkraft für eine Inklusionsklasse zur Verfügung steht, kann das nicht gehen. Oft zieht ein einziges Kind in der Klasse die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, und darunter leidet das Unterrichtsniveau.
Ist die Situation für Lehrer in den letzten Jahren schwieriger geworden?
Auf jeden Fall. Es gibt immer mehr verhaltensgestörte Kinder, was oft mit Problemen im Elternhaus zusammenhängt. Und schließlich wurden Grundschullehrer auf die Anforderungen der Inklusion in ihrer Ausbildung nicht genügend vorbereitet.
Inwiefern sind Eltern für Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder verantwortlich?
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ein Vater hielt es für selbstverständlich, dass sein kleiner Sohn bis spät in die Nacht mit ihm Krimis im Fernsehen guckte. Das war seine Entschuldigung dafür, dass sein Sohn am nächsten Morgen zu spät und unausgeschlafen in die Schule kam. Aber es gibt auch immer mehr sogenannte Helikopter-Eltern, die sich wie ein Hubschrauber ständig in der Nähe ihrer Kleinen aufhalten, um sie zu überwachen und zu behüten. Eine andere Form, verhaltensauffällige Kinder zu erzeugen, ist die Verwöhnung: Kindern sollen Belastungen oder Anstrengungen erspart bleiben und ihnen möglichst viele Wünsche erfüllt werden.
Und wie äußern sich die Verhaltensstörungen?
In vielfältigster Form. In meinem Buch beschreibe ich zahlreiche Fälle, zum Beispiel gewalttätige Kinder oder mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Insgesamt werden Kinder immer kribbeliger. Viele sind nicht in der Lage, längere Zeit konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten, verlassen einfach den Klassenraum und gehen nach Hause. Und es gibt immer mehr Kinder, die einfach nicht lernen wollen.
Wie ist es eigentlich zur Inklusion gekommen?
Am Anfang stand die Aufbereitung des Lern- und Förderschulgedankens, dem folgte zunächst die Integration, die noch keine Inklusion ist: Kinder mit Förderbedarf wurden stundenweise in die Klassen gelassen, ansonsten aber separat beschult. Erst nach der Unesco-Erklärung von Salamanca im Jahre 1994 folgte die Inklusion, bei der alle Kinder Zugang zu regulären Schulen haben sollten. Kinder mit Förderbedarf wurden also ganz in die normalen Schulklassen eingegliedert. In meinem Buch gebe ich zahlreiche Beispiele, warum das ohne ausreichendes, gut geschultes Fachpersonal nicht funktionieren kann.
Wie äußern sich die Mängel der Inklusion in Bremen bei Kindern und Lehrern?
Bei den Kindern können erhebliche Rückstände beim Lernen entstehen. Besonders Kinder mit starken Lernleistungen und hoher Motivation können unter der Inklusion leiden, wenn die Lehrkräfte nicht einen sehr gut differenzierten Unterricht machen. Und Lehrer stoßen oft an ihre Grenzen, wenn Kinder mit Störungen in den Bereichen Wahrnehmung und Entwicklung in den Regelunterricht einbezogen werden. Viele Lehrer sind damit schlicht überfordert. Ich kenne Fälle, wo Lehrer schon nach wenigen Monaten aufgegeben haben oder krank wurden. Lehrer sind in ihrer Ausbildung so gut wie gar nicht auf die anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet worden, Kinder mit Förderbedarf zu unterrichten.
Lassen sich der Inklusion nicht auch positive Seiten abgewinnen?
Auf jeden Fall: Die Kinder mit Förderbedarf erfahren eine höhere Wertschätzung und mehr Gleichbehandlung. Und Kinder mit Handicaps lernen von Kindern ohne diese Einschränkungen, wenn diese etwas besser können – Nachahmen spielt eine große Rolle. Ich bin eine klare Befürworterin der Inklusion – aber die Voraussetzungen müssen eben stimmen.
Das Gespräch führte Jörn Hildebrandt.
Ute Schimmler ist seit 1977 Lehrerin an einer Grundschule in Bremen-Nord und hat umfangreiche Erfahrungen mit Schülern, Eltern und Kollegen zum Thema Inklusion gesammelt. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Inklusion – so nicht“ beschreibt sie die Problemfelder, die Inklusion so schwierig machen. Sie beurteilt die Inklusion an Bremer Schulen ausgesprochen kritisch.
Weitere Informationen
Das Buch von Ute Schimmler „Inklusion – so nicht“ ist 2019 im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, hat 226 Seiten und kostet 12,99 Euro.