Landkreis Osterholz. Tasso Schikores Arbeitstage richten sich nach dem Stand der Sonne. „Wenn sie aufgeht, bin ich unterwegs“, sagt der Biologe. Denn dann stimmen die Vögel ihr morgendliches Konzert an. Für den Mitarbeiter der Biologischen Station (Bios) Osterholz ist das die Gelegenheit, auch die Heimlichtuer unter den Vögeln aufzuspüren. Im Auftrag der Staatlichen Vogelschutzwarte im Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) machen er und acht seiner Bios-Kollegen in diesen Tagen genau das: Sie erfassen, erstmals seit 14 Jahren wieder, den Brutvogel-Bestand im EU-Vogelschutzgebiet Hammeniederung: von Ritterhude bis nach Ostersode und im Günnemoor.
Nach leichtem Regen in den frühen Morgenstunden ist die Luft über der Hammeniederung an diesem Vormittag von vielstimmigem Vogelgesang erfüllt. Tasso Schikore lauscht. „Dieses Kanariengezwitscher – das ist ein Bluthänfling“, greift er eine der vielen Stimmen aus dem Chor heraus. Die Finkenart sei im Bereich des Bahndamms zu finden. Ein hübscher Vogel mit roter Brust und rotem Stirnfleck über dem Schnabel.

Im Auftrag des NLWKN hält Tasso Schikore seit März wiederholt nach bestimmten Brutvögeln Ausschau. Manche kann er jedoch nur hören.
Der NLWKN interessiert sich allerdings nicht für ihn. „Wir erfassen nicht alle Arten“, erklärt Schikore. „Das will niemand bezahlen.“ Ihre Aufgabe bestehe darin, den Bestand der gefährdeten und für das Schutzgebiet „wertbestimmenden“ Arten zu ermitteln. 17 dieser wertbestimmenden Vogelarten führt der Landesbetrieb an. Darunter befinden sich Wiesenbrüter wie der Kiebitz, die Feldlerche und die Bekassine. Aber auch Kleinvögel wie die Wiesenschafstelze und Schwarzkehlchensind dabei, ferner Wasservögel wie das Tüpfelsumpfhuhn und die Knäkente.
Auf 4405 Hektar des insgesamt 6291 Hektar großen EU-Vogeschutzgebiets „Hammeniederung“ ermitteln Schikore und seine Kollegen bereits seit März die Bestände. Biologen eines Oldenburger Büros kümmern sich um die restlichen 1886 Hektar. „Unseren Bereich haben wir in 23 Gebiete unterteilt“, so Schikore. Dort seien seine Kollegen und er teilweise im Wechsel bis Anfang Juli an fünf Tag- und drei Nachtterminen unterwegs.

Nur wenn es singt, blitzt der kleine weiße Fleck an der Kehle des Blaukehlchens auf.
Neben einem Fernglas braucht der Biologe dafür ein Klemmbrett. Darauf: ein Kartenausschnitt des EU-Vogelschutzgebietes, der wiederum in viele kleine Flurstücke unterteilt ist. Hört oder sieht Schikore einen der gesuchten Brutvögel, vermerkt er das im entsprechenden Kartenbereich. „Ich notiere außerdem, ob der Vogel sang oder warnte, ob es ein Weibchen oder ein Männchen war und wann ich den Vogel gesehen habe.“ Die herrschende Witterung sei ebenfalls wichtig.
„Das ist der Große Brachvogel; eine der landes- und bundesweit als gefährdet eingestuften Brutvogelarten“, weist Schikore auf einen Vogel hin, der in diesem Moment über den noch nicht gemähten Wiesen auftaucht. Er brauche feuchte Böden, in denen er mit seinem langen, gebogenen Schnabel nach Futter stochern kann.
Gleiches gelte für die nur Amsel-große Bekassine, die „deutschlandweit hier einen Siedlungsschwerpunkt“ habe, sagt Tasso Schikore. Auch sie sei stark gefährdet und brüte in der Hammeniederung. Denn dort finden Bodenbrüter wie sie noch feuchte und dazu extensiv bewirtschaftete Wiesen und Brachen.

Die Bekassine braucht Lebensräume, wie sie ihr das Vogelschutzgebiet bietet.
Selbst der späte Mahd-Termin im Juni würde den Vögeln aber wohl kaum helfen, wenn der Landkreis nicht – in Kooperation mit Landwirten – seit einigen Jahren einen besonderen Gelegeschutz für die Wiesenbrüter betriebe: Im Frühjahr suchen Bios-Mitarbeiter die Schutzfläche nach den Nestern von Brachvogel, Kiebitz, Uferschnepfe und Co. ab. „Das Gelege der Bekassine ist zu versteckt; das findet man nicht“, weiß Tasso Schikore.
Flächen, auf denen sie deren Gelege vermuteten, dürften nach Absprache und Vereinbarung erst zu einem späteren Zeitpunkt komplett gemäht werden. In den übrigen Fällen werden die Funde so markiert, dass die Landwirte die einzelnen Gelege bei der Mahd aussparen. Für die finanziellen Einbußen, die dadurch entstehen, werde ihnen ein Ausgleich gezahlt, berichtet Schikore.

Diplom-Biologe Tasso Schikore erfasst mit Kollegen von der Bios OHZ den Bestand an Brutvögeln im Vogelschutzgebiet Hammeniederung für das NLWKN.
Dass die Landwirte sich an den Schutz-Aktionen beteiligten, ist für ihn alles andere als selbstverständlich und umso erfreulicher. „Die ersten Brücken haben Paul Richter und Gert Lange ab den 1950er-Jahren gebaut“, erzählt er. Die beiden Naturschutz-Pioniere hätten bereits damals um die Unterstützung der Bauern für den Schutz der Vögel geworben. Es ist somit auch ihr Verdienst, dass in der Hammeniederung jetzt noch um die 20 Große Brachvögel (2006 waren es 28) und gut 160 Bekassinen-Paare (2006: 164 bis 175) brüten.
Und es sei den Landwirten zu verdanken: „Ohne sie geht nichts“, betont Tasso Schikore. Die Bauern wiederum bräuchten die Unterstützung der Gesellschaft: Die Menschen müssten den Wert dieser besonderen (Kultur-)Landschaft erkennen und den damit verbundenen Einsatz der Landwirte durch ihr Kaufverhalten unterstützen.
Bis Ende des Jahres hat die Bios Zeit, die von ihnen und den Oldenburgern ermittelten Bestandszahlen zusammenzutragen, mit denen aus dem Jahr 2006 zu vergleichen und eine kleine Bilanz zu ziehen. Noch ist die Erfassung nicht abgeschlossen. Aber es zeichnet sich bereits ab, dass sich die Unterschutzstellung der Niederung und die zahlreichen Schutzmaßnahmen des Landkreises – wie etwa die Schaffung von Blänken – positiv auf die Vogelwelt ausgewirkt hat. Etwa auf das Blaukehlchen: Vor der Jahrtausendwende sei es für fast 30 Jahre aus der Hammeniederung verschwunden und 2006 erstmals wieder mit neun Brut-Revieren vertreten gewesen. Schikore: „Und dieses Jahr sind es wahrscheinlich mehr als 80 Reviere.“
Verlierer sind dagegen zum Beispiel die seltenen Löffel- und Knäkenten, von denen 2006 noch je vier Paare im Schutzgebiet gebrütet hatten. Nun scheinen sie komplett weg zu sein. Auch das Tüpfelsumpfhuhn, von dem vor 14 Jahren zwei bis drei Paare gezählt wurden, war diesmal unauffindbar. Schikore: „Der Klimawandel reicht inzwischen bis in die Feuchtgebiete.“ Die Gräben führten nicht mehr genug Wasser, viele trockneten aus. 2020 wird das dritte Dürre-Frühjahr in Folge. Statt des „normalen“ Pegelstands von 60 Zentimetern über Normal Null (NN) sank der Wasserstand mitten in der Brutzeit im großen Kirchdammgraben auf 40 Zentimeter. Zu wenig für diese Vögel, die so charakteristisch für Feucht- und Wasser-Gebiete sind.
Dabei hätte man die technischen Bauwerke und Möglichkeiten, die Flächen feucht genug zu halten, sagt der Biologe: „Aber dazu fehlt noch der Mut.“ Vieles in der Hammeniederung sei noch zu sehr auf regelmäßige Bewirtschaftung ausgelegt. Es solle sich niemand auf den Schlips getreten fühlen, betont er; in den vergangenen Jahren sei viel Positives geschaffen und erreicht worden. Aber in Sachen Wasserwirtschaft müsse etwas passieren. „Und das ist unsere Aufgabe: Aufzeigen, wo noch etwas verbessert werden kann.“