Das Flüchtlingslager Waldheim in Oldendorf wurde 1968 geräumt. Heute gibt es keine sichtbare Spur mehr davon. Doch noch immer gibt es einen gewissen Zusammenhalt unter den damaligen Bewohnern, die teils rund 20 Jahre in der Barackensiedlung gelebt haben. Siegfried Begatik will ihre Geschichte aufschreiben.
Holste. Wenn man erst mal anfängt, in Erinnerungen zu kramen: Vor einigen Monaten hat Siegfried Begatik damit begonnen, die Geschichte des ehemaligen Oldendorfer Flüchtlingslagers "Waldheim" aufzuschreiben. Und die lässt ihm seither keine Ruhe: Der 64-Jährige hat selbst seine Kindheit und Jugend in der früheren Barackensiedlung am heutigen Oldendorfer Baggersee verbracht. Inzwischen nähert sich der pensionierte Pädagoge als Chronist und Zeitzeuge der Vergangenheit; seine Archivalien füllen bereits mehr als einen dicken Aktenordner.
Zu einem Ehemaligen-Treffen – es ist das erste seit 20 Jahren – werden heute Nachmittag im Stedener Hof gut 40 Bewohner von einst erwartet. Dort will Begatik weitere Fakten und Anekdoten sammeln. "Mir schwebt eine Buch-Veröffentlichung vor", sagt der Heimatforscher, der eigentlich gar nicht so viel Aufhebens von seiner Person machen möchte.
Ihm gehe es vielmehr um erlebte Historie – um Geschichte und Geschichten, über die bereits das Gras zu wachsen begonnen hat. Ohne die Mitwirkung von Günter Strauß und Cord Ropers, die auch alte Fotos beisteuern konnten, wäre sein Buchprojekt noch längst nicht so weit. Den Gastgebern des heutigen Treffens bei den Wirtsleuten Bodenstab, Elke Vogel und Heinz Raschke, verdanke er ebenfalls Zugang zu vielen wichtige Informationen von damals.
200 Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten hatten die Osterholzer Kreisbehörden im Jahre 1945 in den Behelfsunterkünften am Stedener Holz untergebracht; die Quartiere waren 1938 vom Reichsarbeitsdienst erreichtet worden und fungierten bis zum Kriegsende als sogenannte Maiden-Lager. Dann kamen die Vertriebenen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, auch Siegfried Begatik mit seinen Eltern. "Es war kein tristes Elendslager", betont Begatik: Die Bewohner seien aus allen sozialen Schichten gekommen. Er bevorzuge im Übrigen die Bezeichnung Flüchtlinge: Vertriebene stünden leicht im Revanchismus-Verdacht und das bisweilen zu Recht
Die mit Dachpappe gedeckten Holzhäuser waren fast alle vom selben Typ. Das Barackenlager wurde zur neuen Heimat einer Schicksalsgemeinschaft. Die Hütten duckten sich unter hohen Bäumen und waren um einen rechteckigen Platz herum angeordnet. Begatik hat für fast jede Behausung die Namen der Bewohner und deren Wohndauer festgehalten. Die 17-köpfige Familie Raschke/Knobloch sei die größte gewesen: "Das wurden später alles Fußball-Cracks im TSV Steden-Hellingst", erinnert sich der Ruheständler, der zeitweilig auch selbst im TSV-Vorstand mitwirkte. Er hoffe, auch die Mutter Vogel am Sonnabend wieder zu sehen. Die sei inzwischen 99 und auf den Rollstuhl angewiesen.
Die Flüchtlingsfamilien richteten sich ein, so gut es ging; man pflegte Vorgarten und Gemüsebeet, hielt ein paar Hühner und Kaninchen, fand Arbeit bei den Landwirten in den umliegenden "Schwarzen Dörfern", im Fischereihafen Bremerhaven oder im Oldendorfer Holzwerk nebenan, das Ende der 40er Jahre den Betrieb aufnahm. Die Möbelfabrik ging zurück auf eine Spende des Schwedischen Roten Kreuzes; sie wurde 1953 von den Bewohnern übernommen und existierte bis 1973.
Im Lager "Waldheim" gab es eine Poststelle und einen kleinen Kaufmannsladen – und auch Hochzeiten unter den Bewohnern. Für die Flüchtlingskinder wurde bis 1954 eine eigene Lagerschule betrieben. Der Nachwuchs sollte schließlich anständig ausgebildet werden. "Lehrer Heinrich Rieck war ein hoch angesehener Mann", erinnert sich Begatik. Das Holz für die eigenhändig gezimmerten Schulbänke hatten die Bewohner in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem nahen Forst geholt.
Dauerhaftes Provisorium
Mit der Zeit zogen diejenigen, die es konnten, in die nähere Umgebung um: etliche siedelten am Koppelberg oder Am Großen Geeren, andere verschlug es nach Schleswig oder an den Niederrhein. "Manche blieben auch, wie unsere Familie, fast bis zum Abriss der Baracken 1968." Nichts ist so dauerhaft wie ein Provisorium.
Und dennoch: Die Alteingesessenen ließen die neuen Nachbarn durchaus spüren, dass es Misstrauen und Vorbehalte gab gegen die Lager-Bande, wie sie damals genannt wurde. Erst im Rückblick deutet Begatik den Begriff "Bande" positiv um: "Eine Verbindung, wie Familienbande." Damals, das weiß er nur zu gut, galten die Bewohner vielen Einheimischen als Banditen. Und deren Kinder, immerhin, das waren die sogenannten Lagerspatzen – benannt nach dem gleichnamigen Chor, den Lehrer Rieck als großer Musikfreund, der er war, alsbald gegründet hatte.
Begatik erzählt, dass die Schützenfeste und die Erntefeste eine integrierende Kraft entfalteten. Einheimische und Zugezogene gründeten 1948/49 gemeinsam die Reichsbund-Ortsgruppe Steden. Gleichwohl konstatierte Rudi von Tils über die Oldendorfer Nachkriegsjahre in seiner 1972 erschienenen Kurzchronik für diese Zeitung: "Es gab viel Not und Ärger in dieser Zeit, aber auch viel menschliche Güte und Hilfe."
"Arm waren wir, aber doch sehr glücklich; wir hatten viel Freiheit zum Spielen", schreibt unterdessen Erika Baron, geborene Griepentrog, in einem an ihren damaligen Nachbarn Heinz Raschke adressierten Rückblick. Siegfried Begatik, der heute in Steden lebt, findet: "Das stimmt genau."
Dabei wolle er nichts verklären: Als er später aufs Gymnasium Osterholz-Scharmbeck wechselte – "das war schon knirschig". Zeitweilig schien es besser, den genauen Wohnort zu verschweigen, auch wenn der auf dem Dorf ein offenes Geheimnis war. Wenn der halbwüchsige Siegfried am Wochenende per Autostopp zu Stagge’s trampte ("Da habe ich meine spätere Frau kennengelernt"), dann ließ er sich auf dem Heimweg lieber schon an der Landstraße absetzen und ging den Rest zu Fuß zurück zur Waldheim-Siedlung: "Manches Mal schämte man sich."
Gemeinsame gute und schlechte Erfahrungen – derlei schweißt ganz offenbar zusammen, und tatsächlich schwärmen die Beteiligten noch heute vom Zusammenhalt der Lagerbewohner. Kein Zufall: Lagerbande soll nun auch das Buch heißen, das Begatik in diesem Jahr fertigstellen will.