Die Frage war berechtigt, sie fand aber keinen Platz in dem Interview, das Rudi Völler unserer Zeitung vor dem Länderspiel vergangenen Sommer in Bremen gegen die Ukraine gab. Die Frage war, ob Toni Kroos wieder für Deutschland spielen soll. Ach nein, meinte Nationalmannschafts-Sportdirektor Völler damals, das Thema könne man doch einfach weglassen. Denn Toni Kroos wolle ja gar nicht mehr, und außerdem habe der Hansi als Bundestrainer im Mittelfeld so eine große Auswahl an Topspielern, dass man den Toni auch gar nicht zu fragen brauche.
Neun Monate später ist der Hansi, mit Nachnamen Flick, schon lange kein Bundestrainer mehr. Und weil im deutschen Mittelfeld zuletzt weit und breit kein Topspieler zu sehen war, wird Kroos an diesem Donnerstag erstmals wieder nominiert – knapp 1000 Tage nach seinem Rücktritt im Juli 2021, als das Aus im Achtelfinale der Europameisterschaft in England sein letztes von bisher 106 Länderspielen war. Die Rückkehr des 2014er-Weltmeisters ist der jüngste Beleg dafür, dass beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) knapp 100 Tage vor der Heim-Europameisterschaft in einer Art Notfallmodus nach der Methode „Versuch und Irrtum“ gearbeitet wird: Es wird immer wieder Neues probiert, in der Hoffnung, dass es hilft.

Auch Werder-Stürmer Marvin Ducksch wurde zuletzt erstmals nominiert und von Bundestrainer Julian Nagelsmann aufs Feld geschickt.
Das gilt auch für die Person des aktuelle Bundestrainers Julian Nagelsmann: Die Berufung des mit 36 Jahren jüngsten Bundestrainers seit Reichstrainer Otto Nerz (34) im Jahr 1926 war der Versuch, nach der ermüdenden Flick-Zeit für neuen Elan zu sorgen. Nach nur einem Sieg in vier Spielen und den verdienten Niederlagen gegen die Türkei und Österreich wird es nun um die Frage gehen, ob die Entscheidung für diesen jungen Trainer ein Irrtum war. Zwei schwere Testspiele stehen für die deutsche Mannschaft auf dem Spielplan: am 23. März in Lyon gegen Vize-Weltmeister Frankreich, am 26. März in Frankfurt gegen die Niederlande. Gewinnt Nagelsmann wieder nicht, wird sich der Druck vor der Heim-EM weiter erhöhen. Der Bundestrainer versuchte es zuletzt mit immer neuen Spielern, auch Werders Marvin Ducksch kam zu Einsätzen. Schon jetzt gibt es Stimmen, die im Notfall den volksnahen Völler als Retter des Turniers auf der Trainerbank bevorzugen würden.
Einer der Spieler, die letztmals für Deutschland den EM-Pokal gewannen, ist der Bremer Marco Bode. Er gehört zu den Europameistern von 1996 und weiß, welcher Druck bei der Nationalmannschaft entstehen kann, und auch, wie schnell sich der Wind dreht. „Ich glaube nicht, dass die Zukunft des Bundestrainers davon abhängt, wie die beiden Testspiele im März verlaufen“, meint Bode, „die Spiele könnten aber helfen, um durch eine gute Leistung die Stimmung positiv zu verändern.“ Andernfalls, das sei klar, könnten die Diskussionen zunehmen. Bode: „Bei der Nationalmannschaft kann man die Stimmung aber schneller drehen als in einem Klub: Die zwei Spiele könnten vieles zum Guten verändern.“
Ursprünglich war es Nagelsmanns Aufgabe, die Stimmung im Land zu drehen und die Fans zu begeistern. Nach einem 3:1-Sieg zum Auftakt gegen die USA schien das zu klappen, doch es folgten ein schwaches 2:2 gegen Mexiko sowie die Niederlagen gegen die Türkei und Österreich. Am Anfang wirkte Nagelsmann, ähnlich wie Bayern-Trainer Thomas Tuchel, noch schockverliebt: so viele gute Spieler, so viel Qualität. Er wollte keinen dieser Zocker und Techniker draußen lassen und stellte Angreifer Kai Havertz sogar links in die Abwehr, um auch ihn auf dem Feld zu haben, weil vorne kein Platz mehr war. Bis Nagelsmann merkte, dass viele gute Fußballer noch lange keine gute Mannschaft sind.
"Diese Kommunikation war deplatziert"
Die anfangs noch abgehoben und dozierend wirkende Art, mit der dieser Bundestrainer zum Volk und zu den Medien sprach, wich zuletzt einer gewissen Ernüchterung. „Nach den schlechten Spielen gegen die Türkei und Österreich habe ich mich schon bei dem Gedanken erwischt, dass ich mir das alles etwas anders vorgestellt habe“, gab Nagelsmann im Interview mit dem „Spiegel“ zu – und kündigte einen Kurswechsel an, um bei der EM nicht unterzugehen. Er will es mit einer einfacheren Spielidee probieren. Und das mit Spielern, die sich auch mal für andere reinwerfen würden und denen es weniger darum gehe, mit einem tollen Pass zu glänzen. Nagelsmann: „Diese Spieler haben vielleicht nicht die absolute Topqualität, bringen dafür aber ein paar Prozent mehr Mentalität ein.“
Diese Worte sind auch deshalb erstaunlich, weil Nagelsmann in den ersten Monaten viele andere Ideen ausprobierte und sich stets mit einer unüberhörbaren Überheblichkeit wehrte, wenn er nach den schwachen Länderspielen mit Kritik konfrontiert wurde. Manchmal wirkte das trotzig. „Diese Kommunikation war deplatziert, unprofessionell und nicht zielführend“, sagt der Bremer Kommunikations-Experte Frank Lenk, der Führungskräfte in Krisen berät. Er meint: „Wenn man die Nation als Bundestrainer für die Heim-EM hinter sich vereinen möchte, dann nicht mit Trotz und Überheblichkeit. Schon gar nicht, wenn der Erfolg ausbleibt. Gefragt sind Fußballkompetenz, eine klare Analyse, Lösungen – und das eingepackt in Emotionen und Empathie.“ Nagelsmann sei bisher eher hilflos als mutig rübergekommen.
Das betrifft auch die Sache mit dem Verteidigen. Früher hatte jeder deutsche Abwehrspieler seinen eigenen Friedhof, so überspitzt hat es Trainerlegende Hermann Gerland mal formuliert, als er die deutschen Tugenden wie Zweikampfhärte hervorheben wollte. Bei acht Gegentoren in den vier Nagelsmann-Länderspielen und vier Treffern der Japaner bei der letzten Niederlage von Flick wirkt die Abwehr nun aber überfordert, sogar gegen schwächere Gegner. Das führte schon bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 zu einem bis dahin nie erlebten deutschen Vorrunden-Aus. „Wir werden bis zur Europameisterschaft keine Verteidigungsmonster sein“, das war einer der trotzigen Nagelsmann-Sprüche im Herbst, als er sich zu den Defiziten der Defensive äußern sollte. Ein Satz, der nicht nur Lenk störte, „weil das fernab war von einer klaren Problem-Lösungs-Analyse“. Der Kommunikationsprofi kritisiert solche Sätze: „Die Anfälligkeit in der Defensive wird damit in keiner Weise erläutert, und der Begriff Verteidigungsmonster lässt viel Raum für Interpretationen. Diese Formulierung war nicht klug.“
Kohler: "Wie eine Fehlermeldung im Auto"
Auch Jürgen Kohler war höchst irritiert, als er das hörte. Kohler war eines der größten Verteidigungsmonster des deutschen Fußballs, Welt- und Europameister, im In- und Ausland mit Titeln dekoriert. „Wenn deutsche Nationalspieler in der Abwehr immer die gleichen Fehler machen, dann muss man mit ihnen daran arbeiten, damit es besser wird“, erinnert Kohler den Bundestrainer an dessen ursprünglichste Aufgabe. Kohler, in 105 Länderspielen ein kompromissloser Innenverteidiger, vergleicht das mit einem Auto: „Wenn im Armaturenbrett ständig die gleiche Fehlermeldung aufleuchtet, dann stellt man das dadurch ab, dass man den Fehler behebt.“ Stattdessen immer das Auto zu wechseln, also immer neue Abwehrspieler auszuprobieren, sei kurz vor einem Turnier die schlechteste Idee.
Bode erinnert an die WM 2002
Immerhin: Kohler und Bode haben noch Hoffnung für Deutschland mit Blick auf die Sommer-EM. Bode erinnert an frühere Turniere: „Bei der WM 2002 gehörten wir eigentlich nicht zum Favoritenkreis, kamen aber bis ins Finale und hätten das mit etwas Glück gegen Brasilien sogar gewinnen können.“ Der langjährige Werder-Stürmer spielte auch die Europameisterschaften 1996 und 2000. „Diese Turniere hätten für unsere Nationalmannschaft gar nicht unterschiedlicher verlaufen können: Einmal gab es den Titel für Deutschland, dann das Vorrunden-Aus. Ob das alles vorher so absehbar war, darüber kann man lange diskutieren.“
Im Verlauf großer Fußballturniere habe es oft Überraschungen gegeben.
Kohlers Hoffnungen beruhen darauf, „dass die meisten anderen Nationen nicht besser sind als wir“. Rund um den Erdball gebe es in der neuen Spielergeneration kaum noch Weltklassespieler, „manche zocken lieber stundenlang an der Playstation oder haben schon in jungen Jahren Millionen auf dem Konto. Diese Talente müssen nicht mehr so viel für ihren Erfolg tun wie frühere Generationen“. In Europa sei nur Frankreich besser besetzt als das DFB-Team, vielleicht noch die Engländer, aber die würden es mit ihrem Trainer taktisch nicht hinbekommen. „Die anderen Länder haben nicht aufgeholt, wir sind ihnen qualitativ mit großen Schritten entgegengekommen“, meint Kohler. Diese neue Ausgeglichenheit des fußballerischen Niveaus sei bei der EM nun Deutschlands größte Chance. Sein früherer Mitspieler Bode drückt es etwas fußballromantischer aus: „Wenn die Erwartungen gering sind, kann man positiv überraschen.“