Unser Autor hat mit den blinden und sehbehinderten Fußballspieler des SV Werder Bremen trainiert - natürlich ohne etwas sehen zu können.
Ich halte mich für einen recht sportlichen Menschen, gehe regelmäßig ins Fitness-Studio, laufe viel und treffe mich mit Freunden zum Kicken. Doch jetzt bin ich an meine Grenzen gestoßen. Bestes Beispiel hierfür: Ich verliere gegen einen Achtjährigen ein Wettrennen – und das mit großem Rückstand. „Er hatte eine Bahn Vorsprung“, verrät Michael Arends und lacht dabei. Wir sind sofort per Du, das ist hier selbstverständlich. Wieso ich den Abstand zum jungen Jason nicht selbst erkannt habe? Ich trage eine Brille, die mit einem Tape zugeklebt ist, denn ich trainiere beim Blinden- und Sehbehindertenfußball des SV Werder Bremen für Kinder mit. Eine Erfahrung, die ich so schnell nicht vergessen werde.
„Seit 2011 leite ich zusammen mit fünf anderen Trainern und Pädagogen diese Gruppe“, berichtet Michael, während er auf seine zwölf Schützlinge blickt. Ich folge seinem Blick – zu diesem Zeitpunkt sehe ich nämlich noch. In der Halle in der Pauliner Marsch ist es laut, sehr laut. Das offizielle Training hat noch nicht begonnen, und die Kinder toben, lachen und treten das Leder mal mehr, mal weniger kontrolliert über den Hallenboden. „Wenn ich diese Gruppe so ansehe, sind das ganz normale Kinder für mich“, sagt Michael. Auch ich sehe kaum einen Unterschied zu sehenden Kindern.

Ich beobachte Jason in seinem weißen Deutschland-Trikot mit der Nummer zehn auf dem Rücken. Er ist das einzige Kind in der Gruppe, das vollständig erblindet ist. „Jason ist mit sechs Jahren als Normalsehender eingeschult worden. Mit der Zeit hat er sein Augenlicht verloren“, erläutert Karen. Trotzdem: Scheu, sich frei und vor allem schnell durch die Halle zu bewegen, hat er nicht. Der Achtjährige sucht den Körperkontakt zu seinen Freunden, knöpft sich nun den siebenjährigen Derhan vor, nimmt ihn in den Schwitzkasten und andersherum.

Auf der einen Seite sind da die „normalen“ Fußbälle, weiß, rot oder grün – wie es heutzutage halt so Trend ist. Auf der anderen Seite sind da die gelben Bälle, die einiges zu dem anfänglichen Krach beitragen. Denn die Kugeln haben Glocken in ihrem Inneren – logisch, denn wie auch sonst könnten Jason und Co das Spielgerät ausfindig machen? Sie müssen sich ganz auf ihren Hörsinn konzentrieren.

Angekommen. Das war schon schwierig genug, denke ich mir – doch das ist erst der Anfang. Michael erklärt mir, dass ich jetzt ein Wettrennen gegen Jason haben werde. „Wie soll das denn funktionieren?“, frage ich mich ernsthaft. „Auf der anderen Seite wartet Karen. Sie ruft euch zu sich, also immer ihrer Stimme folgen“, beseitigt der 30-Jährige meine Zweifel, als hätte er meine Gedanken gehört. „Auf die Plätze, fertig, los!“, ruft der Trainer. Und da neben mir und Jason im selben Moment noch die anderen Kinder loslaufen, zucke ich zusammen. Durch das Hallen im geschlossenen Raum kann ich mich nicht konzentrieren, habe zudem Angst, andere Läufer umzurennen.

„Die nächste Übung“, höre ich durch die Halle schallen. „Die Beine anheben“, „seitwärts laufen“, „jetzt im Sprint“. Alles Anweisungen, die mir aus dem Fußballtraining bestens vertraut sind, kein Problem, wäre da nicht meine fehlende Sehkraft. Während meines vermeintlichen Sprints brüllt mir Karen ein deutliches „Stopp!“ entgegen. Augenblicklich bremse ich, das war wohl notwendig. Ein Kind wäre mir ansonsten mit vollem Tempo in die Seite gelaufen – vermute ich. Scheinbar habe ich meine Route verlassen. Es wundert mich, dass mir das nur ein einziges Mal passiert. Kaum auszudenken, wenn ich schneller gewesen wäre. Dann hätte ich wahrscheinlich für eine Massenkarambolage gesorgt.

Nun werden Jason, Mert, Derhan, Ole – seines Zeichens leidenschaftlicher Keeper in seinem Werder-Torwart-Dress – und ich von der restlichen Gruppe getrennt. Es wäre für mich und die anderen zu gefährlich, würde ich für die weiteren Übungen bei der größeren Gruppe mitmachen. Zunächst einmal bekommt jeder von uns einen sogenannten Klingelball an den Fuß. Er wiegt deutlich mehr als die normalen Bälle. Es ist angenehm, den Kontakt am Fuß zu spüren. Ein Gefühl von Sicherheit. Erste Übung: Wir sollen mit dem Ball dribbeln, ihn zwischen den Beinen hin und her spielen. Nichts leichter als das, denke ich. Falsch gedacht: erster Versuch und das Leder ist weg. „Mist“, sage ich mir. Nur nicht in Panik geraten, er kann ja nicht weit weggerollt sein. Ein klarer Fall von: denkste. Ich höre zwar zahlreiches Klingeln, aber welcher Ball gehört mir? Konzentration, nichts geht über Konzentration, beruhige ich mich immer wieder. „Ah, da ist er ja!“ Ich dribble langsamer, viel langsamer. Hin und wieder muss ich mein rechtes Bein ausfahren, um das Spielgerät zu ertasten. In den meisten Fällen schnappe ich mir den Ball wieder, bevor er wegrollt und das Klingeln leiser wird. „Wenn ich euren Namen rufe, schießt ihr aufs Tor“, ruft Michael uns zu. Schwierig, habe ich aktuell doch keine Ahnung, wo ich mich in der Halle aufhalte, geschweige denn, wo sich das Ziel befindet.

Schon bei der nächsten Übung wird mir der Wind aus den Segeln genommen. Zweikampf ist angesagt. Ich treffe auf Jason. Körperlich eine klare Angelegenheit für mich. Motorisch? Habe ich keine Chance. Michael gibt das Startsignal, der Ball liegt in der Mitte, Michael schüttelte ihn vorher, damit wir grob die Richtung wissen. Ich laufe, na ja, viel mehr taste mich vorsichtig in die Richtung vor, in der ich den Ball vermute. Es vergehen keine fünf Sekunden, und Jason versenkt den Ball im Netz. Ich vermute, ich war nicht einmal ansatzweise nah dran, dem Achtjährigen die Kugel abzunehmen, wenn ich denn überhaupt in seiner Nähe war.

„Wir spielen jetzt über das gesamte Feld“, erklärt Michael. Zum einen wäre es für alle Beteiligten zu gefährlich, mich im Team zu haben. Ich würde vermutlich nur wild in der Gegend herumtreten mit der Hoffnung, nicht die Kinder, sondern den Ball zu erwischen. Zum anderen wäre ich keinem der beiden Mannschaften eine Hilfe. Vielmehr würde ich noch den eigenen Torwart stören oder teilnahmslos an der Eckfahne auf einen Pass warten. Ich darf nun die Brille abnehmen. Das einfallende Licht durch die großen Hallenfenster trifft mich, erschlägt mich förmlich. Einmal blinzeln, zweimal blinzeln. Besser wird es nicht. Erst nach 15, 20 Sekunden habe ich mich wieder an das Sehen gewöhnt. Eine unglaubliche Erleichterung durchdringt mich. Ich sehe nun wieder alle Kinder, und das Lachen, der Krach rückt in den Hintergrund.
Ich sehe Ole, wie er konzentriert zwischen den Pfosten steht, Mert, der den Ball gekonnt dribbelt, Derhan, der hinfällt und kurz weint und Jason, der auf Anweisungen von Michael, der hinter ihm im Kasten steht, wartet. „Jetzt“, flüstert Michael ihm zu, und Jason rennt in die Richtung des klingelnden Balles. Ich sehe Kinder, die Spaß haben und kicken, nicht mehr, nicht weniger. Als ich die Halle nach dem Training verlasse und den von Blättern bedeckten Weg neben dem beeindruckend großen Weserstadion entlang gehe, bin ich geschafft, erledigt. „Eine unglaubliche Erfahrung“, denke ich mir und muss schmunzeln, während ich an das verlorene Wettlaufen gegen Jason, einen Achtjährigen, zurückdenke.
Sehbinderten-Fußball bei Werder
◼ Der SV Werder Bremen bietet im Rahmen des Projektes „Werder bewegt“ unter der Leitung von Michael Arends seit 2011 Fußball für blinde und sehbehinderte Kinder an. Das Training findet montags (ausgenommen ist die schulfreie Zeit) von
14.30 bis 15.30 Uhr in der Halle in der Pauliner Marsch am Weserstadion statt. Der Verein arbeitet eng mit der Georg-Droste-Schule, dem Förderzentrum für Sehen und visuelle Wahrnehmung, zusammen.