Es ist Dienstagabend. Auf dem Kramermarkt in Delmenhorst ist Familientag. Man stelle sich vor, ein 14-Jähriger prostet seinem Vater mit einem Alster zu. Muss die Polizei einschreiten? Liegt ein Verstoß gegen den Jugendschutz vor? Keineswegs. In Deutschland erlaubt das sogenannte "begleitete Trinken" 14- und 15-Jährigen, in Anwesenheit ihrer Eltern oder anderer Erziehungsberechtigter Bier, Wein oder Sekt in der Öffentlichkeit zu konsumieren. Zumindest noch. Die Forderungen, den Paragrafen neun Absatz zwei aus dem Jugendschutzgesetz zu streichen, werden immer lauter. Erst im Juni dieses Jahres sprach sich die Gesundheitsministerkonferenz erneut für die Abschaffung des begleiteten Trinkens aus. Die Ressortchefs der Länder riefen den Bund zum Handeln auf. Und dort scheint die Botschaft angekommen: Gesundheitsministerin Nina Warken und ihr Drogenbeauftragter Hendrik Streeck treiben das Vorhaben voran. Was sagt ein Experte in Delmenhorst dazu?
Kein präventiver Effekt
"Ich halte nichts vom begleiteten Trinken in der Öffentlichkeit", macht Tim Berthold, Referent für Suchtprävention bei der Anonymen Drogenberatung in Delmenhorst (Drob), keinen Hehl aus seiner Meinung. Einen präventiven Effekt sieht er nicht. Im Gegenteil. "Es gibt keine Evidenz, dass durch begleitetes Trinken Schlimmeres verhindert wird", sagt Berthold. So würden Studien belegen, dass Jugendliche, die in Gegenwart ihrer Eltern Alkohol trinken dürfen, im Schnitt früher, mehr und riskanter trinken als Gleichaltrige, denen klare Regeln gesetzt werden. "Es ist ein Heranführen an Alkohol", erklärt der Experte der Drob.
Auch für Eltern sendet die Erlaubnis zum begleiteten Trinken ein falsches Signal, ist er überzeugt. Seines Erachtens geht eine kritische Botschaft von begleitetem Trinken aus: "Es kann nicht so schlimm sein." Doch genau das ist es. Statt zu einer Mäßigung führe früher Alkoholkonsum mit elterlicher Einwilligung zu einer frühzeitigen Normalisierung riskanten Konsumverhaltens. Die Idee, durch begleitete Einführung eine Art Schutzwirkung zu erzeugen, sei widerlegt.
Was in Italien anders ist
In einer anderen Gesellschaft könnte das anders sein, räumt Berthold ein. Als Beispiel nennt er Italien. "Dort ist es total verpönt, betrunken zu sein", sagt er. In Deutschland sei das nicht der Fall. Wenn der Onkel bei der Familienfeier betrunken sei, werde das als lustig abgetan. "Deutschland ist viel zu locker", so der Drob-Experte. Deshalb habe Deutschland auch ein massives Problem mit Alkohol. Es sei nach wie vor die Droge Nummer eins. 2024 hat die Drogenberatung in Delmenhorst 351 Klienten mit einer Alkoholabhängigkeit betreut, hinzu kamen weitere 50 Menschen mit schädlichem Gebrauch. Laut Berthold sei sogar ein Großteil der Entlassungen aus dem Job auf Alkohol zurückzuführen.
Ihre Arbeit verlieren 14- und 15-Jährige durch den Konsum von Alkohol natürlich nicht. Es gibt dennoch reichlich andere Gründe, die gegen ein begleitetes Trinken sprechen. "Alkohol ist ein Zellgift", betont Berthold. Es könne körperlich große Probleme verursachen, insbesondere weil das Gehirn bei den Jugendlichen noch nicht voll entwickelt ist. Es sei eine Zeit, in der die Jugendlichen gerade erst lernen, Gefühle zu verarbeiten und Probleme zu lösen. "Wenn Alkohol die Lösung für Wut oder Trauer wird, ist das gefährlich", sagt Berthold. Gesunde Verarbeitungswege später "nachzulernen", sei schwierig. Alkohol dürfe kein Hilfsmittel für Entwicklungsaufgaben sein. Vielleicht helfe das Bier im ersten Moment, die Schüchternheit abzulegen und ein Mädchen anzusprechen. "Aber das bleibt dann ein Leben lang so", merkt der Drob-Experte an. Das könne nicht das Ziel sein.
"Alkohol ist ungesund. Es gibt keinen risikoarmen Konsum", betont Berthold. Unter anderem werde das Krebsrisiko massiv erhöht. An diesem Punkt sieht er einen guten Hebel, um ein Umdenken bei jungen Menschen anzuschieben. "Gesundheit und gut aussehen – das sind zwei Punkte, die für junge Menschen immer wichtiger werden", hat Berthold beobachtet. Dieser Wertewandel lasse sich für Aufklärungskampagnen nutzen. Er sieht nun die Regierung am Zug.
Wie stark ist die Alkohol-Lobby?
Berthold hofft, dass die Bundesregierung das begleitete Trinken tatsächlich abschafft und sich nicht von der Alkohol-Lobby zurückschrecken lässt. In der Vergangenheit sei das leider schon vorgekommen. Als Beispiel nennt er Baden-Württemberg, das den Verkauf von Alkohol an Tankstellen nach 22 Uhr verbot. "Das hat Wirkung gezeigt", so Berthold. Dennoch wurde das Verbot wieder gekippt. "Doch warum sollten Autofahrer Alkohol für die Weiterfahrt kaufen dürfen?", wundert sich der Drob-Mann. Er würde sogar noch weiter gehen. Auch aus dem Supermarkt würde er Alkohol gern verbannen: "Man müsste dann bewusst in einen Getränkemarkt fahren, um Alkohol zu kaufen." Das mache es unbequemer. Auch an der Preisschraube würde Berthold drehen. "Alkohol ist viel zu billig", meint er. Kritisch sieht der Suchtexperte zudem die Werbung für Alkohol. Gerade bei Sportveranstaltung seien Biermarken "omnipräsent". Andere Länder seien an dieser Stelle bereits deutlich weiter als Deutschland.