Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern und gleichzeitig den Kindern mehr Bildung und Förderung bieten – das soll der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab Sommer 2026 ermöglichen. Die Umsetzung in Niedersachsen stellt Kommunen, Schulen und Lehrkräfte vor immense Herausforderungen: Räume und Personal fehlen auch in Delmenhorst. Diskutiert wurde darüber jüngst bei einer Informationsveranstaltung der Gewerkschaft Wissenschaft und Erziehung (GEW). Bildungsexperte Wilfried Steinert präsentierte die Idealvorstellung des Konzeptes voll gebundener Ganztagsschulen, SPD-Landtagsabgeordneter Thore Güldner und SPD-Politikerin Andrea Lotsios sprachen über die realistische Umsetzung.
Wann und für wen gilt der Rechtsanspruch?
Jedes Kind, das ab dem Schuljahr 2026/2027 eingeschult wird, soll in den ersten vier Schuljahren Anspruch auf einen Ganztagsplatz bekommen. Der Rechtsanspruch für den achtstündigen Ganztag in Grundschulen bezieht sich erst einmal auf die Schüler der ersten Klassen, bis Sommer 2029 dann für alle vier Jahrgänge – somit soll bei der Umsetzung etappenweise jährlich eine Jahrgangsstufe hinzukommen. "Wer sich jetzt erst Gedanken zum Ganztag macht, kommt zu spät“, betonte Steinert. Man hätte sich schon vor zwei Jahren sprechen müssen, weil die Organisation des Ganztags komplex ist. Nicht nur Kooperationspartner werden benötigt, vor allem auch Räume für Angebote, Pausen, Therapien oder Beratung.
Welche Formen des Ganztages gibt es?
Unterschieden wird zwischen drei Organisationsformen der Ganztagsschule – offen, teilgebunden und voll gebunden. "Wobei ein offener Ganztag eigentlich nicht den Namen verdient", betonte Steinert. Konflikte seien programmiert. "Sie ist eine Grundschule mit zusätzlichen Angeboten für einen Teil der Kinder am Nachmittag." Er kritisierte mangelnde pädagogische Erziehungskontinuität durch unterschiedliche Mitarbeiter am Vor- und Nachmittag. Er nannte ein Negativ-Beispiel einer Brandenburger Grundschule, bei der es am Nachmittag drunter und drüber ginge: "Ehemalige Polizisten, Frisörinnen und Krankenschwestern beschäftigten die Kinder." Steinert berichtete in seinem Vortrag von seinen Erfahrungen als Schulleiter einer inklusiven Ganztagsschule in Brandenburg, die den Deutschen Schulpreis erhielt: "Kinder brauchen keine bloße Betreuung, sie brauchen Bildung und Förderung." Während bei den ersten beiden Ganztagsmodellen die Nachmittagsangebote freiwillig oder nur teilweise verpflichtend sind, nehmen die Schüler einer voll gebundenen Ganztagsschule verpflichtend an mindestens vier Wochentagen teil. Letzteres ist für Steinert die effektivste Form, um allen Kindern ein entspanntes Lernen und Leben in der Schule zu ermöglichen: "Von allen derzeitigen Ganztagsschulen in Niedersachsen ist aber nur jede 20. eine voll gebundene."
Wie gelingt das Ganztagskonzept?
"Wir haben viele Ressourcen, aber sie werden nicht eingesetzt", so Steinert. Entscheidend sei, dass alle Beteiligten an einem Strang ziehen. "Traditionelle Stundenpläne müssen aufgebrochen werden." Es bedarf keine strikte Trennung zwischen dem Lernen am Vormittag und den außerunterrichtlichen Aktivitäten am Nachmittag – Unterrichtende müssten auch nachmittags arbeiten und die anderen Mitarbeiter auch am Vormittag. "Der Tag muss ganzheitlich gesehen werden, indem sich Konzentrations- und Entspannungsphasen abwechseln", erklärte Steinert.
Wie ist es mit Ganztagsschulen in Delmenhorst bestellt?
Mit dem Beginn des aktuellen Schuljahres ist auch die Grundschule Bungerhof-Hasbergen in den offenen Ganztag gestartet. Somit sind insgesamt sechs Grundschulen mit einem Ganztagsangebot in der Stadt Delmenhorst vertreten. Laut Delmenhorster Stadtverwaltung sollen zum Schuljahr 2026/2027 die Grundschule Iprump-Stickgras (Standort Stickgras), die Grundschule an der Beethovenstraße und die Grundschule Deichhorst folgen. Laut der Delmenhorster SPD-Politikerin Andrea Lotsios zeigt das Konzept des voll gebundenen Ganztags eine Traumvorstellung, die sich sicherlich alle Beteiligten wünschen würden: "In Delmenhorst ist das zunächst illusorisch." Es gebe nicht annähernd das benötigte Personal, auch an Ausstattung und Räumen mangelt es. Sie ist selbst als Lehrerin an einer Grundschule tätig und weiß, welche Herausforderungen es schon jetzt gibt: "Es gibt viel mehr Anmeldungen als Plätze für den Ganztag."
Wie realistisch ist die Umsetzung?
Laut dem SPD-Landtagsabgeordneten Thore Güldner wird die Umsetzung in Niedersachsen schwierig, weil keine Rahmenbedingungen geschaffen wurden und lange nichts passiert sei. "Es wurde richtig gedacht, aber schlecht gemacht", sagte der Politiker. Umso wichtiger sei es, dass jetzt daran gearbeitet werde: "Wir müssen in die Pötte kommen." Damit gemeint sind die Politik, Schulen und Kommunen. Weil es schwierig wird, geeignetes Personal zu finden, müsse man auf andere Konzepte zurückgreifen, bevor sich der voll gebundene Ganztag etabliert, so Güldner: "Wir kommen da nicht so schnell hin." Dies müsse man aber in den kommenden Jahren schaffen, damit beide Elternteile arbeiten gehen können – sonst fehlen Fachkräfte wieder an anderer Stelle. Somit ließe es sich nicht umgehen, weiter auf Horte zurückzugreifen. Der Job eines Lehrers ist laut Güldner ohnehin schon anspruchsvoll, durch den Ganztag wird das nicht weniger: "Es ist wichtig, die Menschen nicht zu überlasten, sonst bringt das Gesetz keinem etwas."