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Experten gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte der Bundesbürger in den Urlaub fahren. Wohin? Meist in die Sonne. Wie die politische Situation des Gastlands aussieht, spielt oft eine untergeordnete Rolle - Hauptsache, das Wetter stimmt. Reisen mit Gewissensbissen

Über das Reisen haben sich schon viele Dichter und Denker ausgelassen. Mark Twain (1835 - 1910) empfahl das Reisen wie ein Tui-Prospekt es nicht besser könnte.
05.06.2016, 00:00 Uhr
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Über das Reisen haben sich schon viele Dichter und Denker ausgelassen. Mark Twain (1835 - 1910) empfahl das Reisen wie ein Tui-Prospekt es nicht besser könnte. Wilhelm Busch (1832 - 1908) reimte: „Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele: Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur. Darum, Mensch, sei zeitig weise; höchste Zeit ist´s: reise, reise!“ Der Dichter Matthias Claudius (1740 - 1815) hinterließ das geflügelte Wort „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“. Er ergänzte: „Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen.“ Mit Stock und Hut geht man heutzutage höchstens noch auf Pilger- oder Wanderreise. Ansonsten greift der zeitgenössische Reisende eher zu Reisepass und Trolley. Fern- und Luxusreisen liegen im Trend, Erlebnis- und All-inclusive-Ferien, Schnorcheln am hoteleigenen Riff in der Dominikanischen Republik, Foto-Safari in Tansania, Chillen auf Mauritius („einem der südlichsten Außenposten der Luxushotellerie“), Cluburlaub in der Türkei - Sonne, Strand und Palmen.

Auf welches Ziel die Wahl bei dem übergroßen Angebot fällt, hängt meist von den Finanzen ab und der Verfügbarkeit von Hotelzimmern. Die politische Lage spielt eine Rolle, sofern der Urlauber Angst vor einem Terroranschlag haben muss. Nach Anschlägen in Istanbul und Ankara brachen die Buchungszahlen bei Türkeireisen ein, meldete die „Tagesschau“ vor wenigen Wochen. Die Verurteilung von regierungskritischen Journalisten zu langen Haftstrafen, die Klage gegen Jan Böhmermann haben dagegen offenbar keine nennenswerten Ausschläge verursacht.

Es gibt durchaus Gründe, auch ohne Terrorwarnungen Reiseziele zu meiden - die Türkei oder Polen und Ungarn, Nordkorea, Saudi-Arabien und den Kongo. Es handelt sich durchweg um sehenswerte Länder, keine Frage, mit überwiegend freundlichen Einwohner, sicher. Aber womöglich möchte man nicht da Urlaub machen, wo Menschen unterdrückt oder gar gefoltert werden, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist oder Oppositionelle in Gefängnissen sitzen. Kann man guten Gewissens nach Lesbos reisen, wo Flüchtlinge in armseligen Lagern darauf warten, weiter ins Innere Europas gelassen zu werden? Mag man sich am „feinsandigen Traumstrand“ der Guantánamo Bay räkeln, in dessen Nähe die USA weiterhin ein Gefängnis betreiben, das als rechtsfreier Raum gilt?

Moralapostel aller Länder vereinigt euch - wer lässt sich schon gerne mit dem erhobenen Zeigefinger vor dem Reiseprospekt herumfuchteln, wer möchte sich den Urlaub vermiesen lassen? Den Urlaub, den man vielleicht schon seit Wochen herbeisehnt; die Zeit, in der man sich erholt vom grauen Alltag zu Hause; 14 Tage nur, ohne schlechte Nachrichten, ohne Politik und Probleme, Urlaub vom Ernst des Lebens. Viele Urlauber beschäftigten sich vor ihrer Reise zu wenig mit dem Land, in das sie reisen, sagt Antje Monshausen, Referentin für „Tourism Watch“ beim evangelischen Hilfswerk „Brot für die Welt“. Das gelte auch für Fernreisen in Schwellen- oder Entwicklungsländer. Das Augenmerk liegt auf der Ausstattung des Hotels, auf dem Klima und dem Freizeitangebot. Je kleiner und weiter weg das Land, desto weniger Wissen gebe es meist dazu, sagt Monshausen. „Allerdings leben wir in einem Informationszeitalter, wo es nicht schwer ist, sich Wissen anzueignen, auch aus unabhängigen Quellen, und eine gut vorbereitete und bewusst gewählte Reise ist immer die bessere.“

Auch Rainer Hartmann, Professor für Marketing-Management in Tourismus und Freizeit an der Hochschule Bremen, empfiehlt, nicht nur den Hochglanzprospekt zu Rate zu ziehen. Wer vor seinem Traumurlaub erfahre, dass im ausgesuchten Reiseland Minderjährige zu 100 Stockhieben verurteilt werden, suche sich womöglich ganz freiwillig ein anderes Ziel aus. Glücklicherweise gibt es mehr als genug. In den vergangenen Jahrzehnten wurde wohl noch jeder unberührte Sandstrand von Reiseveranstaltern aufgespürt.

Die Veranstalter sind selten diejenigen, die Wissenslücken schließen, wenn die zusätzlichen Kenntnisse auf die Stimmung schlagen. Der Urlauber muss sich schon selbst die Mühe machen und recherchieren, ob er in ein Land zu reisen beabsichtigt, wo Kinderarbeit gang und gäbe ist, wo Diktatoren an jeder Übernachtung mitverdienen, wo Ressourcen vergeudet werden. Tourismus gilt als mächtiges Marketinginstrument - mit schönen Sandstränden werben auch Krisenstaaten für sich. Jeder Urlauber, der zu Hause in Deutschland von Friede, Freude und Gastfreundschaft schwärmt, poliert das Image einer Nation, auch der, die im Demokratieindex ganz weit unten angesiedelt ist. Auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin (ITB) warben Anfang März mehr als 180 Länder für sich. ITB-Partnerland waren dieses Mal die Malediven - ein muslimischer Staat, in dem Religionsfreiheit ausdrücklich verboten ist und die Scharia gilt.

Indessen spricht auch manches dagegen, bestimmte Länder zu meiden. Ein Minus bei den Übernachtungszahlen hat bislang noch nicht dazu geführt, dass ein Diktator voller Reue seinen Umgang mit Regimekritikern überdacht hat. Es kann auch nicht im Interesse seiner Bevölkerung sein, wenn sich ein Land quasi selbst überlassen bleibt. Kann es richtig sein, Menschen, die im Tourismus ihr Auskommen gefunden haben, durch Fernbleiben die Existenzgrundlage zu entziehen? Grundsätzliche Boykotts helfen laut Antje Monshausen nicht weiter. Tourismus biete Reisenden eben auch die Chance, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Das könne bedeuten, mehr Informationen „und ein differenziertes Weltbild“ zu erhalten oder mit Vorurteilen aufzuräumen. Dabei komme es indes auf die Form des Tourismus an: Wer einen All-inclusive-Cluburlaub gebucht hat, begegnet Einheimischen meist allein als zahlender Gast, dem man gerne behilflich ist. Zu intensiven Gesprächen mit dem Zimmermädchen über die (vermutlich raue) Lebenswirklichkeit im Urlaubsland wird es wohl kaum kommen.

Wie bei anderen Gewissensfragen müsse jeder für sich selbst entscheiden, welche Art von Urlaub er vertreten könne, sagt Hartmann. Umfragen zeigten, dass die politische Situation keine gravierende Rolle bei der Wahl des Urlaubslands spiele. "Wichtig ist, dass Strand, Hotel und Wetter gut sind." Einer Berliner Zeitung sagte ein Student auf der ITB: „Natürlich ist das furchtbar. Ich könnte mir trotzdem vorstellen, in einer Diktatur Urlaub zu machen, solange es nicht gerade zu akuten Ausschreitungen kommt."

Es sind nicht nur politische Gründe, die einer sogenannten nachhaltigen Reise entgegenstehen können, sondern auch ökologische. Wer in den Skiurlaub fährt, profitiert von den Sünden der Vergangenheit - von schwerwiegenden Eingriffen in die Natur der Alpen beispielsweise. „Tourism Watch“ listet auf ihren Internetseiten Fakten auf, die jedem Reisenden die Haare zu Berge stehen lassen müssten. Beispiel gefällig? Ein Luxushotel auf Sansibar verbraucht laut „Tourism Watch“ fast 3200 Liter Wasser pro Tag und Zimmer für Swimmingpool, Rasenfläche und Wasserversorgung der Gäste, den Durchschnittshaushalten stehen 93 Liter zur Verfügung. Will man so Urlaub machen? Will man sich in einem Luxusresort in einem bitterarmen Land für 14 Tage als König der Welt fühlen?

Womöglich ist das sogar noch eine halbwegs erträgliche Form der Reise-Dekadenz. Schließlich geht es - wie so oft - noch schlimmer. Rainer Hartmann berichtet von einer Tourismusnische, die als „Dark Tourism“ bezeichnet wird und die die „Zeit“ als „Reisen zum Leid der anderen“ beschreibt. Die einen besichtigen Elendsviertel, die anderen besuchen Tschernobyl. Ist das nicht eher Zynismus als Tourismus? Wenn man Geld dafür übrig hat, Menschen zu besichtigen, denen es am Nötigsten fehlt? Katastrophentouristen nähmen schließlich nicht nur in Kauf, von sozialer Ungerechtigkeit zu profitieren, sie suchten sogar danach, sagt Professor Hartmann.

Deutsche Urlauber hätten, so die „Zeit“ 2011, mit der Vogelgrippe und Aschewolken schon Überraschungen im Ausland erlebt - in Ägypten sei ihnen 2011 mehr geboten worden: „Dass zwischen Beachvolleyball und Folkloreabend ein Regime gestürzt wird, das war neu. Und wenn man den Zahlen glauben darf, kam es gar nicht so schlecht an. Von den 30 000 Deutschen, die zu Beginn des Umsturzes im Land waren, blieben die meisten bis zum regulären Abreisetag.“ Als Jugoslawien zerfiel, blieben die Urlauber weg - die meisten, nicht alle. Sie kamen nach Kroatien, weil ihnen versichert wurde, dass der Krieg nicht bis in Touristenorte vordringen werde und ärgerten sich über die Kriegssteuer, die die Preise in die Höhe trieb.

Fair Play, Fair Trade, Fair Travel - es gibt mittlerweile diverse Gütesiegel, die politisch korrekten Urlaub auszeichnen. Manche Anbieter haben sich auf Reisen mit reinem Gewissen spezialisiert. Die Non-Profit-Organisation „Ethical Travelers“ listet Jahr für Jahr Ziele auf, bei denen Touristen durch ihren Urlaub helfen, die positive Entwicklung des Landes in ökologischer, sozialer und politischer Hinsicht zu unterstützen. Aus diesem Grund sind unter den zehn ethisch vertretbaren Reisezielen auch ausschließlich Entwicklungsländer zu finden. 2016 umfasst das Ranking unter anderen Kap Verde in Afrika, Dominica und Grenada (Inseln in den Kleinen Antillen), Mikronesien im Westpazifik, die Mongolei, Panama in Mittelamerika, Samoa im südwestlichen Pazifik, Tonga im Südpazifik und Uruguay in Südamerika.

Die Bewertung, heißt es, stützt sich auf Erkenntnisse von Organisationen wie Freedom House, Reporter ohne Grenzen, dem Kinderhilfswerk Unicef und der Weltbank. An dem Ranking für 2016 wurde umgehend Kritik laut - Amnesty International (AI) wirft der Mongolei und Uruguay Menschenrechtsverstöße vor. Doch auch Deutschland (sowie Schweden und Spanien) zählt zu den 160 Staaten, die AI in seinem jüngsten Jahresbericht erwähnt. AI kritisiert hierzulande die Absicht, nordafrikanische Länder als sichere Herkunftsstaaten einzuordnen.

Ja, wie sieht es überhaupt mit Deutschland als Reiseziel aus? Kanada warnt seine Mitbürger vor unliebsamen Begegnungen mit Fremdenfeinden. Aktuell wird unter den Sicherheitshinweisen auf die Ereignisse der Silvesternacht in Köln verwiesen. Dort heißt es außerdem: „Es hat Berichte von Personen gegeben, die wegen ihrer Herkunft oder ihres ausländischen Aussehens schikaniert oder angegriffen wurden.“ In Dresden brachen im vergangenen Jahr die Besucherzahlen ein, vor allem die inländischen, heißt es bei der Dresden Marketing GmbH. Viele Bundesbürger hatten offenbar wenig Lust, Augenzeugen einer Pegida-Demonstration zu werden. Inzwischen sind die Zahlen laut der GmbH wieder gestiegen.

Überhaupt - ein Urlaub in Deutschland kann auch schön sein. Ein Teil des Problems sei die Entwicklung des Tourismus zu einem Teil des Lebensstils, sagt Rainer Hartmann, „und auch zu einer Art Statussymbol“. St. Peter Ording? Ganz nett, so als Zweit- oder Dritturlaub. Ansonsten gilt: immer ferner, exklusiver und exotischer. „Wer schon alles gesehen hat, was andere auch gesehen haben, ist auf der Jagd nach etwas Besonderem.“ Dabei können Gewissensbisse wegen politischer, sozialer oder ökologischer Umstände schon mal auf der Strecke bleiben. Auch für Antje Monshausen und „Tourism Watch“ gilt die Maxime: Weniger ist mehr. „Wir müssen lernen, wieder mehr auf Qualität statt auf Quantität zu achten. Wir müssen reisen wieder wertschätzen lernen.“ Als das, was es ist: ein Luxus mit Verantwortung.

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