Auch nach der fünften Niederlage in Folge verzichtet Florian Kohfeldt darauf, den Ton zu verschärfen und die Zügel anzuziehen. Zum einen, weil viele dieser Niederlagen erwartbar waren: Gegner wie Dortmund oder Leipzig sind einfach besser besetzt. Zum anderen, weil der Bremer Kader gerade wenig Variationsmöglichkeiten hergibt: Die Abwehr stellt sich nach der Verletzung von Ömer Toprak und der Sperre von Christian Groß von alleine auf, die Knöchelverletzung von Leo Bittencourt ist auch keine gute Nachricht.
Vor allem aber zieht Kohfeldt seine Zuversicht aus dem Saisonverlauf: Anders als im Vorjahr, als Werders Trainer zwischendurch einen härteren Umgang mit den Spielern wählte, rangiert sein Team nun konstant über der Abstiegszone. Mit einem Sieg am Mittwoch gegen den Tabellennachbarn Mainz könnte Werder den sicheren Abstand zum Relegationsrang zementieren und sich freuen, unter schwierigsten Pandemie-Bedingungen eine halbwegs stabile Saison gespielt zu haben.
Und wenn nicht?
Das ist die bange Frage. Für alle bei Werder. Kassiert Bremen gegen Mainz die nächste Niederlage, droht ein dramatisches Saisonfinale. Dann käme alles wieder auf den Prüfstand. Auch die Diskussionen um Kohfeldt würden wieder aufflammen. Damit muss und kann er als Bundesligatrainer leben, dennoch lohnt sich ein genauer Blick. Was spricht für ihn, was gegen ihn? Lässt man die Emotionen außen vor, was im Fußball schwierig ist, gibt es interessante Punkte beim Pro und Kontra.
Der Antreiber vieler Entwicklungen bei Werder
Für ihn spricht, dass er Werder nach einer Saison mit grotesk vielen Standardgegentoren stabilisiert hat. Seit sich der Cheftrainer vermehrt selbst um die Standardschulung kümmert, sind seine Spieler hier nicht mehr die Lachnummer der Liga. Überhaupt führte die defensivere Spielweise zu weniger Gegentoren. Auch gut: Vergleicht man die Infrastruktur bei Werder mit der von Kohfeldts Dienstbeginn im Herbst 2017, liegen Welten dazwischen. Vieles ist erst jetzt professionell und zeitgemäß, vom Kabinentrakt über Schulungsmöglichkeiten bis hin zu kürzesten Wegen für Untersuchungen. Neben Manager Frank Baumann war und ist Kohfeldt der Motor dieser Modernisierung.

GRUEN AUF WEISS ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet. Die Kolumne erscheint in der Regel dienstags.
Kohfeldts größte Stärke ist die Analyse der Gegner. Einige Siege in dieser Saison, in der Liga gegen Frankfurt oder im Pokal in Hannover, waren Kohfeldt-Siege, auch wenn er das nie sagen würde. Mit chirurgischer Präzision nutzte Werder in diesen Spielen die Schwachpunkte der Gegner aus und schoss Tore, die der Trainer so geplant hatte. Dass er zudem nach außen der beste Verkäufer der Marke SV Werder ist, lenkt schon lange von den vielen tristeren Spielen ab.
Das ist zwar gut für Werders bundesweite Wahrnehmung, führt aber direkt zum Kontra: Wie viel Schuld trägt Kohfeldt am Bremer Gruselfußball? Bei Ballbesitz trifft das Team oft gar keine oder falsche Entscheidungen. Dass er der Mannschaft ein gutes Angriffskonzept vermitteln konnte, kann Kohfeldt seit den besseren Kruse-Zeiten nicht mehr für sich reklamieren. Einen der wenigen Matchwinner im Team, den erprobten 1:0-Schützen Bittencourt, lässt er zu oft draußen.
Dem jungen Stürmer Eren Dinkci hat er zwar zu ersten Spielen verholfen, viele hätten sich aber eine mutigere Förderung des vielleicht größten Hoffnungsträgers gewünscht. Zu oft bekamen Konkurrenten wie Osako oder Selke den Vorzug, rechtfertigten das aber nicht. Dass er Talente fördern kann, hat Kohfeldt bei Marco Friedl bewiesen.
Seine Galligkeit überträgt sich nicht
Auffallend: Weder Kohfeldts Enthusiasmus, noch sein unbedingter Siegeswille übertragen sich auf den mental seltsam fragilen Kader. Wäre Galligkeit eine Krankheit, dann wäre Werder kerngesund. Oft wirkt Kohfeldt darüber erschüttert. Mal staucht er im Spiel alle zusammen, mal versinkt er fassungslos auf der Trainerbank. Was er will und sagt, und was die Mannschaft spielt, klafft mitunter arg weit auseinander.
Doch ist das ein Trainerproblem, oder eher ein Kaderproblem? Der Beweis steht aus, dass ein anderer Coach mehr herausholen würde aus einem Team, in dem kein konstanter Torjäger zu finden ist, kein Spielgestalter, kein Abräumer, kein fitter Abwehrchef und kein mitspielender Torhüter. Ein neuer Trainer würde all das bemängeln, der Verein müsste es irgendwie beheben. Das wäre ohnehin der beste Plan, gegen den sich auch Kohfeldt nicht wehren würde. Denn bei allem Pro und Kontra gehört schon viel Fantasie zu dem Glauben, dass dieses Team wirklich viel mehr kann.