Im Profifußball ist es nicht anders als in den Alpen: Ein unbedachter Moment löst schnell eine Lawine aus, und die kann gehörigen Schaden anrichten. Am Wochenende löste Ole Werner bei Werder eine solche Lawine aus. Die Mischung aus seiner Unerfahrenheit im Bundesligageschäft und die Emotionen nach dem verlorenen Spiel in Leipzig dürften das begünstigt haben. Sagen wollte er in seinen Statements nach dem Spiel nur, dass der eine Trainer (Leipzigs Marco Rose) knapp ein halbes Dutzend Nationalspieler einwechseln konnte, während der andere (Ole Werner) so viele Nationalspieler nicht mal in seiner Startelf hatte. Leipzig drehte dadurch das Spiel, weil Werder von der Bank keine adäquate Qualität bringen konnte.

Grün auf weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Schon brach sie los, die mediale Lawine, und sie rüttelt Werder gründlich durch. Kritisiert der Trainer seine Chefs, die diesen Kader formiert haben? Braucht Werder mehr Breite, also viel mehr Spieler auf ähnlichem Niveau? Hat Werder falsch geplant? Die Antwort in allen Fällen lautet: nein.
Bei diesen Diskussionen, die Werder in jeder Transferphase und nach jeder Niederlagenserie einholen, muss man Schein und Sein trennen, um den richtigen Blick auf die Situation nicht zu verlieren. Der Schein ist, dass Werder als Traditionsverein einfach in die Bundesliga gehört, weil das Stadion immer so voll ist wie die Vitrine mit den Pokalen und weil der Verein viele Menschen in der Region bewegt. Er produziert gewaltige emotionale Bilder, etwa durch die Fanmärsche am Osterdeich oder zuletzt in Berlin. Das Sein: Werder ist einer der ärmsten Vereine der Liga, hoch verschuldet und auf absehbare Zeit verpflichtet, Kredite in Millionenhöhe zurückzuzahlen. Bei den Fernsehgeldern rangiert Werder als Aufsteiger weit hinten. Der Abstieg und die Pandemie hätten den Verein in die Insolvenz führen können, es war ein knappes Ding und harte Arbeit, das zu verhindern.
Diese wirtschaftliche Realität, die Clemens Fritz stets zurecht betont, lässt sich in Zahlen veranschaulichen: Werders Kader hat einen Marktwert von 80,55 Millionen Euro. In der Bundesliga würden nur die Spieler von Schalke und Bochum weniger kosten. Acht Mannschaften haben einen mindestens doppelt so hohen Marktwert jenseits der 160 Millionen, einige – wie eben Leipzig – sogar den sechsfachen: Der Kader von RB Leipzig ist 407 Millionen Euro mehr wert als der von Werder. Natürlich wechselt Leipzigs Trainer eine höhere Qualität ein. Deshalb gewinnen Klubs wie Leipzig oder Bayern in neun von zehn Spielen gegen Bremen, ganz egal, wie der grün-weiße Kader aussieht. Werders Spieler machen nur 1,9 Prozent des Marktwertes aller Bundesligaprofis aus – und das sogar mit Niclas Füllkrug und Marvin Ducksch.
Die Überraschung ist also nicht, dass Leipzig besser wechseln kann, sondern dass Werder am Wochenende trotzdem vorzeitig den Klassenerhalt sichern kann. Jeder Trainer, der mal so einwechseln will wie Leipzigs Rose, muss einen Arbeitsvertrag bei einem Champions-League-Klub unterschreiben. Bei Werder wurde die Diskussion über Breite oder Spitze im Kader schon vor der Saison intern geführt: Bewusst entschieden sich Fritz, Frank Baumann und auch Werner für die Spitze, also für eine möglichst gute erste Elf mit dem Sturmduo Ducksch/Füllkrug, einem Top-Vorlagengeber wie Mitchell Weiser und einem oft wichtigen Abwehrchef Niklas Stark. Ein breiterer Kader war finanziell nicht drin. Aber für einen Verein, der nur Bundesliga und ein paar Pokalrunden spielt, ist das kein Harakiri. Im Gegenteil: Wirtschaftlich ins Risiko zu gehen, um einen besseren Kader zu haben, führte Werder nach dem Transfersommer 2019 in die zweite Liga und in die Verschuldung.
Viele Klubs, die hinter Bremen in der Tabelle stehen, haben einen breiten Kader, aber keine gute erste Elf. Sie alle haben weniger Tore geschossen und weniger Siege geholt als Werder. Der Plan geht bisher also auf. Es könnte sogar falsch oder zumindest gefährlich sein, diesen Weg künftig zu verlassen. Denn wenn man wenig Geld hat, bedeutet mehr Breite im Kader oft auch mehr Beliebigkeit – aber eine Mitläufer-Auswahl gewinnt eher keine 35 Punkte in 32 Spielen.
Gut möglich, dass rund um Werder in diesen Tagen ohnehin die falsche Diskussion geführt wird. Es gibt zwei andere gute Fragen, deren Beantwortung hilfreich sein könnte für die weitere Planung: Warum fielen zuletzt wieder viele Spieler krampf- oder muskelgeplagt aus, obwohl die Mannschaft keine englischen Wochen spielen muss? Und warum entwickelt sich der große Rest hinter der Stammformation nicht weiter? Vielleicht muss man konstatieren, dass auf der Ersatzbank die falschen Spieler sitzen, überschätzt oder am Limit angekommen – oder beides. Dann wäre die Spitze im Kader immer noch völlig richtig. Aber es wäre die falsche Breite.