Um realistisch einschätzen zu können, was in der neuen Saison vom SV Werder zu erwarten ist, muss man die vergangene Saison einordnen: Obwohl die Bremer einer von mindestens zehn potenziellen Abstiegskandidaten waren, sind sie nie in den Tabellenkeller gerutscht und landeten auf dem neunten Platz. Das war gut, mit einer Einschränkung: Die 42 Punkte, die Werder holte, reichen gewöhnlich zum Klassenerhalt. Diesmal hätten sie fast für den Europapokal gereicht, weil ungewöhnlich viele Vereine schlecht punkteten.
Damit beginnt jetzt das Problem: Denn das knappe Verpassen des Europapokals schürt Erwartungen. Aber ist Werder wirklich schon so weit, die internationalen Plätze angreifen zu können? Wäre das Erreichen von Platz acht oder sieben die nächste logische Entwicklung? Auf beide Fragen lautet die Antwort: eher nicht.
Nach jetzigem Stand ist die Mannschaft nicht stärker als in der vergangenen Saison. Die Neuzugänge Keke Topp, Skelly Alvero und Marco Grüll haben das Potenzial, sich zu Stammspielern zu entwickeln. Dass sie Werder zeitnah auf ein anderes Level hieven, wäre eine überzogene Erwartung. Lediglich im Tor ist Werder besser besetzt als vor einem Jahr: Michael Zetterer geht zum ersten Mal als offizieller Stammtorhüter in eine Saison, er hat Werders Aufbauspiel durch seine Ballsicherheit revolutioniert. Bis zum Transferschluss Ende August müsste schon ein beachtlicher Knaller gelingen, damit man auch in anderen Mannschaftsteilen von einem Qualitätsschub sprechen könnte.
Werners Vorgabe klingt vernünftig
Beim Thema Europa gehört zur Wahrheit: Die Fans haben diesen Traum wohl eher gelebt als die Spieler. Im Frühjahr fehlte dem Team die nötige Gier, um mehr zu erreichen. Den Platz im Europapokal schnappte Heidenheim den Bremern nicht erst am letzten Spieltag weg, es gab davor viele ungenutzte Möglichkeiten, für die nötigen Tore und Punkte zu sorgen. Auch das spricht dagegen, dass die Mannschaft reif ist für höhere Aufgaben.
Die Zielvorgabe von Trainer Ole Werner klingt vernünftig, erst einmal 40 Punkte für den Klassenerhalt zu sammeln. Gelingt das frühzeitig, kann man mehr anpeilen. Aber: Werder hat zuletzt Vereine hinter sich gelassen, die sportlich und wirtschaftlich besser besetzt sind. Zum Beispiel Freiburg, Wolfsburg oder Union Berlin. Es ist keine Selbstverständlichkeit, das wieder zu schaffen. Die Konkurrenz hat sich zum Teil erheblich verstärkt. Und das Auftaktprogramm ist heftig. Schon an den ersten acht Spieltagen geht es unter anderem gegen Dortmund, Bayern, Freiburg, Wolfsburg und Leverkusen. Es könnte anfangs also auch in Richtung Tabellenkeller gehen, und dann müsste Werder in neuer Konstellation den aufkommenden Stürmen trotzen: Nach der Ära Frank Baumann sind nun Clemens Fritz und Peter Niemeyer sportlich in der Verantwortung.
Werder fehlen Unterschiedsspieler
Schon das Pokalspiel am Montag bei Drittligist Energie Cottbus wird Hinweise liefern, ob die Mannschaft – anders als beim Erstrunden-Aus im Vorjahr – nun zuschlägt, wenn sie die Chance hat, etwas zu erreichen. Die Saisonvorbereitung verlief fast schon zu ruhig, es gibt wenig Reibung oder Konkurrenzkampf. Was Werder vor allem fehlt, sind Unterschiedsspieler. Leute, die ein Spiel alleine entscheiden können oder die für 20 Tore in einer Saison gut sind. Werder empfindet es als Vorteil, mit einem fast unveränderten Kader eingespielt loslegen zu können. Das aber müsste man schon in Cottbus dann auch deutlich auf dem Rasen sehen.
Die grundsätzliche Frage lautet, was Werder sein möchte. Ein Kandidat für Europa oder ein Ausbildungsverein? Alles deutet auf Letzteres hin. Talente wie Keke Topp, Skelly Alvero, Justin Njinmah und Julian Malatini sind das sportliche und wirtschaftliche Potenzial des Vereins. Um sich zu entwickeln, müssen sie spielen und gefördert werden. Diese Jungs werden auch Fehler machen und Schwankungen haben. Dabei muss man im Blick haben: So mancher Stammspieler, der jetzt noch geholt würde, könnte diese Talente blockieren und sie Spielzeit kosten. Nur einen großen Namen zu verpflichten, bringt nichts. Das Beispiel Naby Keita sollte allen eine Warnung sein.