Wenn eine Fußball-Kolumne mit dem Hinweis auf den Sinn des Lebens beginnt, darf man sie in die Tonne kloppen. Ich bitte um eine Ausnahme. Ein Sinn des Lebens ist für mich: Entwicklung. Die Menschheit entwickelte sich aus drögen Einzellern zu hoch spezialisierten Affen mit Fähigkeiten wie Fallrückzieher und Mondflug. Werder Bremen begann 1899 als FV Werder, gegründet von 16jährigen Schülern, die beim Tauziehen einen Fußball gewonnen hatten. Daraus entwickelte sich eine renommierte Organisation abseits des Tauziehens mit Fans rund um den Globus, sogar in exotischen Gefilden wie Hamburg-Harburg.
„Wichtig ist, dass man sich Stück für Stück weiterentwickeln kann“, bemerkte neulich Werders Trainer Ole Werner. Der Entwicklungshelfer aus Kiel ließ die demoralisierten Grün-Weißen nach dem Abstieg und Anfangs Ende wieder aufblühen. Wenn nicht plötzlich der Mond platzt, spielt Bremen auch in der nächsten Saison in der Bundesliga. Klassenerhalt – da tiriliert jeder Aufsteiger. Die Entwicklung der letzten Wochen trübt die Freude aber ein. Seit dem beruhigenden Sieg gegen Bochum, damals im Februar, gelang in den nächsten neun Spielen nur noch ein weiterer Erfolg bei sechs Niederlagen. Die mit der rosaroten Brille wiegeln ab: immer nur mit einem Tor Differenz verloren, in keinem Spiel klar unterlegen, hätte auch andersrum ausgehen können, Tri-Tra-Trullala. Ist es aber nicht. Das Weserstadion war mal eine Festung, nach 10 Heimniederlagen steht da eine Sandburg, wenn auch mit prächtiger Stimmung. Die Selbstzufriedenheit nach dem großen Kampf gegen die „Weltklasse-Mannschaft“ (hüstel) aus München ging mir etwas weit. Man lässt es sich gut gehen, bis man merkt, wie schlecht es um einen steht. Es grüßt die Klimakrise.

Lou Richter wurde durch die Moderation der Sat.1-Sport-sendung „Ran“ bekannt. Im wöchentlichen Wechsel mit Jörg Wontorra, Christian Stoll und Oliver Reck schreibt er in unserer Zeitung, was ihm im Fußball-Geschehen aufgefallen ist.
Die Weser steht Werder nicht bis zum Hals. Die Ligaärmsten (demnächst Darmstadt und Heidenheim) leben anderswo, aber die Dukatenscheißer eben auch. Welche Möglichkeiten sieht Ole Werner, sich und das Team Stück für Stück weiterzuentwickeln? Die Perspektive scheint keineswegs so strahlend, dass man Sonnenbrillen verteilen müsste. Das vogelwilde Sturmduo Füllkrug und Duksch hat einerseits schon mehr Tore erzielt als die hochgepriesene 2017er Kombination Kruse/Gnabry. Andererseits: „Lückes“ Lücke wäre kaum zu füllen, wie die letzten Wochen bewiesen. Ich vermute, er arbeitet auch schon an seinem Englisch. On the woodway wäre aber Duksch, wenn er sich ebenfalls verabschiedete. Seine Heimatstadt Dortmund mag locken, aber die lockt noch lukrativer nach der durchaus empfehlenswerten Weiterentwicklung in Bremen. Machen beide Vögel den Abflug, steht Werder da wie David vor Goliath – nur ohne Steinschleuder…
Da muss Sportchef Baumann mal wieder seine Paraderolle geben, als Frank, der Baumeister. Reparieren, renovieren, restaurieren. Dabei hemmt, was wir alle selber oft erleben: Man weiß, wo der Schuh drückt, aber für die Maßanfertigung fehlen die Ressourcen. Die Arm-Reich-Schere ist in der Bundesliga längst ein Bolzenschneider, das nennt man dann Fehlentwicklung. Wenn Werder morgen in Leipzig ein besseres Resultat einfahren könnte als das schon übliche, vermaledeite 1:2, wäre das dagegen eine gute Entwicklung.