Wenig ist im Fußball wirklich berechenbar, aber einfache Logik funktioniert meistens recht gut. Das gilt auch für Werder. Als der Verein letztmals einen herausragenden und alles dominierenden Spieler hatte, Max Kruse, da zog dieser Topscorer die durchschnittliche Mannschaft auf ein höheres Niveau. Fast hätte Werder damals, im Mai 2019, den Europapokal erreicht. Ein Sieg fehlte. Wer weiß, wie es weitergegangen wäre, mit den Millionen-Einnahmen aus internationalen Spielen und einem Kruse, der dann vielleicht noch Lust auf Werder gehabt hätte.

Grün auf weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Es kam anders. Kruse ging weg, zurück blieb die durchschnittliche Mannschaft. Es war logisch, was dann passierte: Die Mannschaft stürzte in den Tabellenkeller, ohne ihren besten Mann, den Entscheider in engen Spielen. Erst Relegation, dann Abstieg. Es war in beiden Jahren eine ordentlich bestückte Mannschaft, mit Maxi Eggestein und ein Jahr lang auch noch mit Davy Klaassen im Mittelfeld. Und mit dem schnellen Milot Rashica im Angriff. Wenn er mal fit war, warf sich Ömer Toprak in jeden Zweikampf. Aber es fehlte halt der Mann, der aus Niederlagen Unentschieden gemacht hatte und aus engen Spielen Siege: Max Kruse.
Heute ist Niclas Füllkrug bei Werder dieser Unterschiedsspieler. Der Rest der Mannschaft ist ein Jahr nach dem Aufstieg noch nicht so stark wie die damalige Bremer Truppe, die nach der Ära Kruse den Abstiegskampf durchlebte. Auch jetzt in Mainz war es Füllkrug, der aus einer drohenden Niederlage in letzter Minute ein 2:2 machte. Füllkrugs Wert für Werder ist kaum in Worte zu fassen. Es sind ja nicht nur seine bisher 16 Saisontore, mit denen er die Torschützenliste der Bundesliga anführt. Er ist als deutscher Nationalstürmer auch Werders größte Werbefigur. Er macht seine Mitspieler besser, vor allem Marvin Ducksch. Sportlich und wirtschaftlich ist Füllkrug die Lebensversicherung der Grün-Weißen. Dank ihm bleiben sie in der Liga, und nur mit ihm können sie großes Geld machen. Denn für keinen anderen Spieler dieses Kaders würde jemand eine zweistellige Millionenablöse bezahlen.
Jedem sollte klar sein: Damals gab es in Bremen Kruse und eine durchschnittliche Bundesliga-Mannschaft, das reichte fast für den Europacup. Heute gibt es Füllkrug und eine allenfalls mittelmäßige Mannschaft – das wird wohl für den Klassenerhalt reichen. Die damalige Logik greift auch heute: Nimmt man diesen einen Topspieler weg, zum Beispiel im Sommer, was bleibt dann?
So löblich es ist, wenn im Profifußball mit seinen Egos von „Wir“ gesprochen wird, niemand sollte sich da täuschen. „Wir geben nie auf“ oder „Wir haben alles reingeworfen“: Das sagten andere Werderspieler nach dem Punktgewinn in Mainz. Sie waren es aber auch, die dem Gegner durch krasse Fehler immer wieder den Ball überließen, nicht nur bei den Gegentoren zur Mainzer 2:1-Führung. Wie Jens Stage, Christian Groß oder der eingewechselte Lee Buchanan selbst Pässe über wenige Meter nicht zum Mitspieler brachten, war unerklärlich. Überhaupt Buchanan: Anthony Jung spielt auf der schwächeren linken Seite ja schon einen eher soliden Part, aber Buchanan hat nach seiner Einwechslung in 30 Minuten so viel falsch gemacht, dass man ihn eigentlich wieder hätte rausnehmen müssen. Sie alle können sich bei Füllkrug bedanken.
Man kann nicht hoch genug einschätzen, dass Werder nach 27 Spieltagen schon 32 Punkte geholt hat. Objektiv betrachtet gibt es kaum Vereine in der Liga, deren Kader schwächer ist. Deshalb freut sich Ole Werner zurecht über jeden hart erarbeiteten Punkt. Zweimal hatte dieser Trainer in Bremen großes Glück: Gleich am Anfang, als ihm – wie nach einer Wunderheilung – vom ersten Zweitligaspiel an alle Leistungsträger zur Verfügung standen und Werner eine Siegesserie hinlegte, die sein Ansehen im Verein bis heute stärkt. Sein zweites Glück: Er musste nie über Wochen oder Monate auf Füllkrug verzichten. Anders als Florian Kohfeldt. Die Zahlen dazu: Mehr als 4200 Minuten stürmte Füllkrug bisher für Werner und schoss dabei 31 Tore. Kohfeldt hingegen stand dieser Topstürmer nur 1400 Minuten zur Verfügung, was für neun Tore reichte.
Füllkrug und das Mittelmaß, so kann man Werders Torjäger und seine Mannschaft nennen. Er weiß das, spätestens, seit er im Nationalteam die Klasse all der anderen erleben darf. Nach dem schwachen 2:2 in Mainz sagte Füllkrug: „Wir können nicht jedes Spiel top spielen, das wird nicht passieren. Diese Fantasie kann ich jedem nehmen.“ Das stimmt. Eine Menge Fantasie braucht man aber, um sich vorzustellen, wie diese Mannschaft mal ohne Füllkrug Punkte sammeln sollte.