Lothar Matthäus war nicht nur einer der besten Fußballspieler seiner Zeit. Er war auch einer der Ersten, die das Potenzial des jungen Nick Woltemade richtig einschätzten. Schon nach wenigen Kurzeinsätzen des schlaksigen Stürmers legte er sich fest: Dieser Junge hat etwas Besonderes.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Noch heute lässt Matthäus in Sachen Woltemade nicht locker. Als Rekordnationalspieler war er viele Jahre der Star des FC Bayern, und er würde auch Woltemade dort gerne spielen sehen. Aber nicht für die angeblich gebotenen 50 Millionen Euro Ablöse, sondern für „80 bis 100 Millionen“, denn das sei der Angreifer wert. Mit diesen Aussagen ließ Matthäus den Ur-Bayern Uli Hoeneß am Wochenende wütend um den heimischen Tegernsee kreisen, aber er legte noch nach: Die Bayern hätten ja genauer hinschauen können, als Woltemade noch in Bremen spielte, dann hätten sie ihn vergangenes Jahr umsonst bekommen.
Den richtigen Riecher hatte stattdessen der VfB Stuttgart. Es ist schon jetzt der Coup des Jahres, dass die Schwaben Woltemade ablösefrei aus Bremen holten, ihn binnen einer Saison zum Topstar schliffen und jetzt eine schwindelerregende Ablöse für ihn erzielen können. Werder kann derzeit nicht einmal davon träumen, einen Spieler für 50 bis 100 Millionen Euro zu verkaufen – was aber vor allem daran liegt, dass die Bremer es nicht geschafft haben, auch nur einen einzigen jungen Profi so zu entwickeln, wie es der VfB Stuttgart in kürzester Zeit bei Woltemade geschafft hat.
Nicht einmal ihren eigenen Nick Woltemade haben die Bremer zum Topspieler machen können. Bei Werder gilt Ole Werner in dieser Sache als Hauptschuldiger. Der Cheftrainer der vergangenen vier Jahre holte aus Woltemade deutlich weniger heraus, als es sein Stuttgarter Kollege Sebastian Hoeneß binnen weniger Monate schaffte. Dabei war es zunächst eine schwierige Beziehung zwischen Woltemade und dem VfB. Die Stuttgarter meldeten den Bremer nicht für die Champions League, und es dauerte nach diesem Dämpfer eine Weile, bis er sich unter den vielen guten Angreifern dort behaupten konnte.
Deshalb soll es bei Werder sogar zarte Überlegungen gegeben haben, Woltemade für Rückrunde auszuleihen, aber alle Gedanken in diese Richtung erübrigten sich aus zwei Gründen. Erstens: Woltemade ging in Stuttgart plötzlich ab wie eine Rakete. Zweitens: Bei Werder war ja immer noch Werner im Amt, um den viele Talente zuletzt lieber einen Bogen machen wollten. Auch Justin Njinmah wäre nicht geblieben, wenn es bei Werder in diesem Sommer keinen Trainerwechsel gegeben hätte.
Dass Werder in diesem Sommer noch keinen Jungprofi verpflichten konnte, liegt auch daran, dass diese Generation zuletzt wenig Sinn darin sah, es in Bremen zu versuchen, wo etablierte Spieler hofiert werden. Dieser Ruf ist für Werder problematisch. Ob und wie sehr sich das unter dem neuen Trainer Horst Steffen ändert, muss sich nun zeigen.
Für Werder wäre es wichtig, wieder als gute Adresse für Talente zu gelten. Was der VfB Stuttgart kann, sollten die Bremer doch auch können: Gute Jungs entdecken, sie fördern und verbessern und dann teuer verkaufen. Einerseits kann Werder im unteren Juniorenbereich nun zwar damit werben, einen Nick Woltemade über viele Jahre in den Jugendmannschaften ausgebildet zu haben. Aber bei den Profis klappte diese Förderung eines – wie man nun sehen kann – Hochbegabten überhaupt nicht.
Sollte allein Ole Werner das Hindernis gewesen sein, so ist den jüngeren Werder-Profis dieses Alibi nun genommen. Ob Justin Njinmah, Keke Topp, Julian Malatini oder Skelly Alvero – sie alle sind in der abgelaufenen Saison nicht wirklich weitergekommen in ihrer Karriere. Unter Horst Steffen wird sich nun zeigen, ob das nur an Pech und am vorherigen Trainer lag oder ob es hier oder da an Mentalität, Robustheit und Qualität fehlt. Im besten Fall entwickeln sich alle vier zu Stammspielern.
Über Europacupnächte sollte Werder nun aber weniger reden. Oder sagen wir es mal so: Mit einem Woltemade in der Form, die ihn bis in die Nationalmannschaft brachte, wäre das vielleicht sogar möglich gewesen. Doch mangels Perspektiven und Wertschätzung bei Werder wurde aus seiner angestrebten Vertragsverlängerung damals nichts.
Für Werder ist das entstandene Bild gefährlich
Alle, die sich danach an die Geschichte klammerten, dass der Spieler schon immer für Stuttgart spielen wollte und sich einen Kindheitstraum erfüllte, werden sich nun verwundert die Augen reiben. Woltemade will nun unbedingt zum FC Bayern. So ist das Geschäft. Es geht um Förderung und Wertschätzung. Beides hat er bei Werder unzureichend erfahren. Ein millionenschwerer Vertrag bei einem Weltklub wie Bayern München wäre die höchste Form der Wertschätzung.
Für Werder liegt darin eine Gefahr: Woltemades Weg zeigt, wie schnell man besser werden und Karriere machen kann, wenn man die Werder-Blase verlässt. Steffen muss nun daran arbeiten, dass sich dieser fatale Eindruck verflüchtigt.