Oliver Reck ging es in den letzten Tagen so wie vielen Werder-Fans. Erst bestaunte er Nick Woltemade beim 3:1-Sieg der U21-Nationalmannschaft gegen Spanien, als der gebürtige Bremer alle drei Treffer für Deutschland erzielte, was den 23 Jahre jungen Angreifer europaweit in die Schlagzeilen brachte. Und dann kam das Halbfinale im DFB-Pokal, als Woltemade mit seinem Tor gegen RB Leipzig den Weg ebnete zum Finaleinzug des VfB Stuttgart. Einerseits freute sich Reck, dass es in Deutschland so ein tolles Talent gibt. Doch viel mehr wurmt es den langjährigen Werder-Torhüter, dass ein Bremer wie Woltemade, der von Kindesbeinen an bei Werder ausgebildet wurde, jetzt in Stuttgart den Durchbruch schafft – und nicht an diesem Sonnabend für seinen Herzensverein im Weserstadion gegen Eintracht Frankfurt stürmt.
„Der Junge lief bei Werder unter dem Radar, das ärgert mich“, sagt Reck, „man hat ihm in Bremen einfach nicht das Vertrauen geschenkt, das er sich verdient hatte. Man konnte schon früh erkennen, dass er ein ganz anderer Spielertyp ist als alle anderen.“ Mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern, gepaart mit einer beeindruckenden Schnelligkeit, war Woltemade für Reck immer ein Ausnahmetalent. „Ich habe seine Entwicklung schon in der Jugend verfolgt. Nick ist dazu auch noch fußballerisch so clever, so abgezockt, so hinterlistig im positiven Sinne, dass er für jede Mannschaft eine Bereicherung sein kann, wenn er Vertrauen bekommt. Ich glaube, er hat bei Werder nicht mehr das Vertrauen gespürt. Deswegen hat er seinen Vertrag nicht verlängert. Das hätte niemals passieren dürfen.“
345 Spiele hat Reck zwischen 1985 und 1998 für Werder gemacht, er wurde mit den Bremern Meister, DFB-Pokalsieger und gewann den Europapokal. Er hat eine Vita. Mit seiner Kritik fängt der frühere Nationaltorhüter deshalb oben an: „Werder hatte Marco Bode im Aufsichtsrat und Frank Baumann als Manager, danach Clemens Fritz und Peter Niemeyer. Das sind alles Ex-Profis. Die alle haben Nick Woltemade gesehen. Und da reden wir noch nicht über die ganzen Trainer, die ihn bei den Profis und in der Jugend begleitet haben. Und keiner von denen hat erkannt, dass dieser Junge irgendwann richtig durch die Decke geht?“
Reck stellt zwei Szenarien auf, nachdem Woltemade vor der Saison ablösefrei von Bremen nach Stuttgart wechselte. Erstens: Der Stürmer debütiert bald in der A-Nationalmannschaft. Zweitens: Im Sommer werden Klubs aus England und Spanien sehr hohe Ablösesummen für ihn bieten. Reck: „Und dann? Was sagt man dann in Bremen? Nicht nur, dass hier ein Bremer Junge im Süden Deutschlands durchstartet – er hat Werder ja auch noch ablösefrei verlassen. Auch das hätte nie passieren dürfen.“
Immer, wenn er Woltemade sehe, erinnere ihn die fußballerische Qualität an den alten Manni Burgsmüller, den er bei Werder erlebte. „Der war genauso schlau auf dem Platz, wie das Nick Woltemade ist“, erklärt Reck, „diese Spieler wissen immer im richtigen Moment, was zu tun ist. Woltemade trifft im Spiel viele gute Entscheidungen. Deswegen kann ich nicht verstehen, dass er in Bremen keine tragende Rolle gespielt hat.“
"Werder muss sich kritisch hinterfragen"
Natürlich habe Woltemade in manchen seiner 41 Bundesligaspiele für Werder (zwei Tore) auch Fehler gemacht, weiß Reck, „aber damals war er sehr jung, und junge Spieler machen Fehler. Aber sein Potenzial war riesengroß.“ Auch bei der erfolgreichen Leihe zum Drittligisten Elversberg sei klar geworden, was der Stürmer kann. Reck: „Es ist einfach schade, wenn man sieht, wie viel Geld Werder für den Nachwuchs ausgibt. Von den Profis bis zu den Junioren gibt es so viele Trainer, Co-Trainer, Experten, Psychologen und noch viel mehr, die machen Fitnesstests von morgens bis abends – und dann schafft so ein Junge nicht in Bremen, sondern in Stuttgart den Durchbruch? Das kann nicht wahr sein. Hier muss sich Werder sehr kritisch hinterfragen.“
Schon bei Eren Dinkci kam Kritik auf, weil die Cheftrainer in Bremen keine richtige Verwendung für den Stürmer aus der eigenen Jugend fanden, der dann in Heidenheim durchstartete. Heute ist er Stammspieler beim SC Freiburg. Reck mahnt: „Bei Justin Njinmah darf es nicht wieder so laufen. Ja, er war oft krank oder verletzt. Aber der Junge hat großes Potenzial, das wissen inzwischen auch Klubs im Ausland. Auch ihn hat Werder ausgebildet und verliehen. Wenn Njinmah gesund ist, muss er jetzt immer spielen. Er soll seine Klasse in Bremen zeigen, nicht woanders.“
Reck fordert: „Ich möchte sehen, dass bei Werder die Talente nicht nur bis zur U19 oder U23 ausgebildet werden, sondern dass auch danach eine Entwicklung zu Profispielern stattfindet. Die sehe ich nicht. Man muss im Verein alles dafür tun, dass Spieler wie Woltemade in Bremen durchstarten. Das wurde aber nicht gesehen – oder es wurde unterschätzt. Beides ist nicht gut für Werder.“