Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Ein Spiel als Mythos Werders 5:3 nach 0:3 gegen Anderlecht wird 30 Jahre alt

Legendär: Das war Werders-Aufholjagd am 8. Dezember 1993 gegen den RSC Anderlecht. Ein Rückblick auf die nervenaufreibende Partie.
07.12.2023, 10:04 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von dco

Wenn es nasskalt ist in Bremen, also so richtig, diesig und dunkel, und dazu am besten noch eisiger Wind von der Weser in Richtung Osterdeich weht – dann ist das: Werder-Wetter. Keine Jacke, kein Schal, kein Handschuh oder Winterstiefel kann davor schützen, denn Werder-Wetter ist gnadenlos. In kurzen Hosen und Trikots lässt sich bei diesen unwirtlichen Bedingungen jedoch Großes vollbringen, merkwürdigerweise. Zumindest gab es mal eine Zeit, in der das so war.

„Regen, Kälte, tiefer Boden, das Flutlicht an – das waren genau unsere Bedingungen“, schwärmt Werder Bremens ehemaliger Torhüter Oliver Reck, der am Vormittag des 8. Dezember 1993 deshalb bester Dinge war. Champions-League-Gruppenphase, Heimspiel gegen den RSC Anderlecht, nur noch wenige Stunden bis zum Anstoß – und draußen Dauerregen bei Temperaturen von knapp über dem Gefrierpunkt. Herrlich! Was Reck beim Blick aus dem Fenster aber noch nicht ahnen konnte: Es sollte ein Abend für die Ewigkeit werden, einer, um den sich heute so viele Mythen und Legenden, Geschichten und Anekdoten ranken, dass sich mit ihnen problemlos das Weserstadion umwickeln ließe. Mehrfach. Nun jährt sich Werders 5:3-Erfolg nach 0:3-Pausenrückstand gegen Anderlecht zum 30. Mal. Eine Festschrift.

Massenflucht aus dem Stadion

Thomas Wolter, um die Geschichte ausnahmsweise mal am Ende beginnen zu lassen, wurde umgehend gewarnt, als er nach dem Spiel zu später Stunde den altehrwürdigen Lindenhof in Bremen-Habenhausen betrat. Der Werder-Profi, der beim Stand von 0:3 zur zweiten Hälfte eingewechselt worden war, hatte Besuch aus seiner Heimat Hamburg und wollte den Abend locker in der Gaststätte ausklingen lassen – etliche Werder-Fans hatten allerdings dieselbe Idee gehabt und begrüßten Wolter nun freudetrunken. „Da kam der Wirt direkt auf mich zu und hat gesagt: ,Thomas, lass' dich nicht täuschen. Jetzt feiern sie dich, aber die meisten von denen sind schon nach der ersten Halbzeit aus dem Stadion hierher gekommen und haben geflucht'“, erinnert sich Wolter. Und lacht. In der Tat hat das Weserstadion wohl nie davor und danach eine derartige Massenflucht während eines Spiels erlebt wie am 8. Dezember 1993.

Der „Weser Kurier“ notierte am Tag danach, leicht melodramatisch: „Als es schon nach 18 Minuten 2:0 für den RSC Anderlecht stand, hielten es einige Werder-Fans vor Kummer nicht mehr aus. Weinend verließen sie die Tribüne und das Bremer Weserstadion.“

Das war auch Thomas Wolter nicht verborgen geblieben. Während sich seine Mitspieler in der Kabine nach einer bis dato unterirdischen Leistung das eisige Schweigen von Trainer Otto Rehhagel anhörten, das lediglich für den Hinweis unterbrochen wurde, sie mögen sich ob des Wetters doch bitte frische Trikots anziehen, und während die Geschäftsführung in den VIP-Logen erzürnte Edelkunden zu besänftigen versuchte, wärmte sich Wolter auf dem Rasen für seine Einwechslung auf. „Ich habe gesehen, wie plötzlich das halbe Stadion leer war und dachte, dass sich die Leute wohl ein neues Bier holen – die kamen aber nicht mehr zurück“, sagt der 60-Jährige. Was sich böse rächen sollte.

Einzigartige Werder-Aufholjagd

Rehhagels Plan: Er brachte Wolter für den grippegeschwächten und entsprechend wirkungslosen Andreas Herzog ins Spiel, beorderte Mario Basler auf Herzogs Position hinter den Spitzen und ließ wiederum Wolter die Basler-Rolle auf der rechten Außenbahn übernehmen. „Das ist aufgegangen, auch wenn es etwas gedauert hat, bis meine Füße nach der eiskalten Halbzeit auf der Bank so richtig aufgetaut waren“, blickt der Joker von einst zurück. Torhüter Reck will zwar schon in der Pause gewusst haben, „dass wir das Spiel noch drehen können, weil wir schon ganz andere Spiele gedreht hatten“, aber erst in der 66. Minute begann sie dann tatsächlich: die Mutter aller Werder-Aufholjagden. Wynton Rufer, für Reck „der entscheidende Mann, weil er uns an diesem Abend alle mitgerissen hat“, traf nach Steilpass von Dieter Eilts per Lupfer zum 1:3. „Und was dann passiert ist, kann ich bis heute nicht richtig erklären“, betont Wolter.

Rein statistisch liest es sich so: Bis zehn Minuten vor Schluss haben Rune Bratseth (72.) und Bernd Hobsch (80.) zwei weitere Treffer nachgelegt und damit Anderlechts 3:0-Führung, für die Philippe Albert (16.) und Danny Boffin (18./33.) gesorgt hatten, egalisiert. Die Kräfteverhältnisse auf dem Platz hatten sich da längst umgekehrt. Waren die Gäste aus Belgien vor dem Seitenwechsel beinahe übermächtig erschienen, wurden sie nun von den Hausherren auf dem völlig aufgeweichten Boden bei anhaltendem Regenfall regelrecht überrannt – fast so, als hätte Werder erst jetzt bemerkt, dass an diesem Abend ja die perfekten Bedingungen herrschten: Werder-Wetter.

Lesen Sie auch

Am Ende waren es dann Marco Bode (83.) und erneut Rufer (89.), die mit ihren Toren zum 4:3 und 5:3 das Unmögliche möglich machten – und für ein Ergebnis sorgten, das wohl jeder Werder-Fan für immer mit einem belgischen Vereinsnamen verbinden wird.

Werder als Nachtgespenst

Nach dem Spiel dann wilde Szenen: Doppeltorschütze Rufer tanzt oben ohne durchs Stadion, schlägt Purzelbäume und will damit gar nicht mehr aufhören, während Uli Borowka Fahne schwenkend durchs Rund läuft. Anderlechts Trainer Johan Boskamp gibt derweil zerknirscht zu Protokoll: „Mir kommt es vor, als ob ein Nachtgespenst unser Spiel zerstört hätte.“

Oliver Recks Erklärung für die Sensation, die bis heute nach den Siegen gegen Spartak Moskau und Dynamo Berlin als drittes „Wunder von der Weser“ in der Bremer Vereinschronik verzeichnet ist, klingt da deutlich weniger mystisch: „Wir hatten damals vielleicht nicht die beste Mannschaft, aber wir hatten tolle Charaktere, die immer wieder in der Lage dazu waren, Außergewöhnliches zu vollbringen.“

Angeleitet, geformt, in Einzelfällen womöglich sogar erzogen wurden diese Charaktere von, natürlich, Trainer Otto Rehhagel. Der scherzte nach dem Abpfiff in Richtung der wartenden Journalisten: „Heute braucht ihr mich nicht, da habt ihr doch genug zum Schreiben.“ Seiner Mannschaft gegenüber schlug er stattdessen, sagen wir, nüchternere Töne an.

„Es war ein geiles Gefühl, das Spiel noch gewonnen zu haben“, blickt Thomas Wolter zurück. Und dem Verteidiger und seiner Mannschaft war in der Tat Bedeutsames gelungen – nämlich der erste Sieg einer deutschen Mannschaft in der Champions League überhaupt. Rehhagel, so berichtet es Wolter, habe den Erfolg mit demselben Satz quittiert, den er nach Siegen stets an seine Spieler gerichtet habe: „Genießen Sie es kurz, aber passen sie auf, was sie essen und trinken. Schon bald steht das nächste Spiel an.“

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)