Reinhard Schumacher rechnete mit dem Schlimmsten. Sein Torwart, eine Stütze der Mannschaft, hatte bei der jüngsten 0:5-Niederlage seine Handschuhe auf den Boden geschleudert und erbost den Platz verlassen, bevor das Spiel beendet war. Er fühlte sich von den Mitspielern im Stich gelassen. Jetzt wollte dieser Torwart, ein gewisser Florian Kohfeldt, mit Schumacher, dem Jugendtrainer des TV Jahn Delmenhorst, reden. „Ich war mir sicher: Der hört auf“, erzählt Schumacher.
Wie das Gespräch tatsächlich verlief, bringt ihn mehr als 20 Jahre später noch zum Staunen. Der junge Torwart, gerade mal zwölf Jahre alt, überreichte ihm eine Mappe. Neun handgeschriebene Seiten. „Da standen mögliche Aufstellungen drauf. Was wir trainieren könnten. Welcher Spieler wo spielen könnte“, erzählt Schumacher und macht eine kurze Pause: „So etwas habe ich von einem Kind in dem Alter noch nie gesehen.“
Anstatt hinzuwerfen machte Kohfeldt sich also Gedanken darüber, wie sein Team besser werden könnte. In dem Moment habe er sich einfach nur darüber gewundert, sagt Schumacher. Rückblickend passt die Geschichte aber genau ins Bild. Was er damals erlebte, war der Anfang einer Trainerkarriere, die Kohfeldt bis in die Bundesliga zu Werder Bremen führen sollte. „Vorausgeahnt habe ich das natürlich nicht, aber eine gewisse Tendenz in die Richtung war bei ihm schon immer da“, sagt der 65-Jährige.
Jemand, dem man zuhört
Schumacher – ein schlanker, grauhaariger Mann mit Brille, der gerne redet – steht an diesem kühlen Abend auf der Anlage des TV Jahn Delmenhorst. Er blickt zum Platz, den das Flutlicht in helles Licht taucht. Die erste Herrenmannschaft aus der Kreisliga hat gerade Training. „Da haben wir früher auch trainiert“, sagt Schumacher. „Florian war fast immer da. Man konnte sich 100-prozentig auf ihn verlassen. Und wenn er redete, hörten die anderen Kinder zu.“ Schumacher hatte damals den Vorzeigejahrgang des Vereins unter seinen Fittichen. Von der F-Jugend bis zur A-Jugend. „Wir haben nicht oft verloren.“
Die Spieler kannten sich von klein auf. „Florian hat von Anfang an im Tor gestanden, dabei war er auch ein guter Fußballer“, sagt Schumacher. Eines fiel allen beim TV Jahn auf, dem Trainer genauso wie dem Betreuer Bernhard Pospich und dem früheren Fußball-Abteilungsleiter Knut Hinrichs: der unbändige Ehrgeiz ihres Torhüters. „Er war ein ganz lieber, netter, zuvorkommender Junge“, sagt Hinrichs. „Auf dem Platz wollte er aber unbedingt gewinnen. Da konnte er auch mal lauter werden.“
Schlägerwurf beim Tischtennis
Pospich erzählt, dass Kohfeldt nicht nur beim Fußball großen Siegeswillen gezeigt habe. „Ich weiß noch, wie Florian im Tischtennis einmal gegen meinen Sohn Philipp verloren hat. Danach hat er seinen Schläger durch die ganze Halle geschmissen“, sagt Pospich. „Er hat es gehasst zu verlieren“, ergänzt Schumacher. Nach Niederlagen habe er Kohfeldt erst einmal nicht angesprochen.
Dass der TV Jahn solch einem ambitionierten Nachwuchsspieler irgendwann nicht mehr ausreichte, liegt auf der Hand. Bevor er im Jahr 2001 zu Werder wechselte, wurde Kohfeldt mit der A-Jugend noch Bezirksliga-Vizemeister – als Aufsteiger. „Er war ein zuverlässiger Rückhalt und ein eher ruhiger Typ“, erinnert sich Dominik Entelmann. Der heutige Stürmer des Oberligisten SV Atlas Delmenhorst sorgte damals für die Tore, während Kohfeldt in der gesamten Saison nur 24 Gegentreffer zuließ und sogar einmal vom Elfmeterpunkt traf.
Bei Werder spielte Kohfeldt dann für die dritte Mannschaft in der Verbandsliga. Er habe relativ schnell gemerkt, dass es für ganz oben nicht reiche, sagte er einmal. Dafür fand Kohfeldt immer mehr Gefallen an der Trainertätigkeit. Nach seinem Wechsel blieb er dem TV Jahn zunächst als Co-Trainer und Torwart-Trainer für Jugendteams erhalten. „Er hat mit uns damals schon viel über Taktik gesprochen“, erinnert sich Jens Schieber, einer von Kohfeldts Schützlingen. Dass er behaupten kann, von einem Bundesliga-Coach trainiert worden zu sein, sei eine großartige Sache, findet der 29-Jährige.
Reinhard Schumacher sagt, es mache ihn sehr stolz, dass sein ehemaliger Spieler jetzt seinen Lieblingsverein trainiert. Er hat extra alte Fotos herausgesucht und zeigt mit dem Finger auf einen kleinen blonden Jungen im roten Torwarttrikot, der einen Ball in der Hand hält. „Da sieht man: Er wollte immer den Ball haben“, sagt Schumacher und klingt wie ein stolzer Vater, der über seinen Sohn spricht.
Abi-Prüfung gut gemeistert
In Delmenhorst können viele eine Geschichte über den Werder-Trainer erzählen. Kohfeldt ist tief verwurzelt in der 80 000-Einwohner-Stadt im Schatten Bremens, die Auswärtige immer noch zuerst mit Sarah Connor verbinden. Er hat Familie und Freunde in Delmenhorst. Auch seine Frau Juliane stammt von dort. Die beiden besuchten gemeinsam das Max-Planck-Gymnasium. Florian Kohfeldts mündliche Abitur-Prüfung im Fach Deutsch hatte das Thema „Politische Rede“. „Er hat sie gut gemeistert“, sagt Schulleiterin Cordula Fitsch-Saucke, die Kohfeldt im Jahr 2002 prüfte. Als Schüler sei er „sehr umgänglich, kommunikativ und offen“ gewesen.
Das kann sein Mitschüler Gerrit Dauelsberg nur bestätigen: „Man konnte mit ihm gut feiern, natürlich gut über Fußball sprechen, aber auch wunderbar über Politik diskutieren.“ Viele aus dem Abitur-Jahrgang hätten Delmenhorst inzwischen verlassen, sagt er. Auch Kohfeldt ging weg, fand sein Glück aber ganz in der Nähe. Es ist ein modernes Fußball-Märchen: Der Junge aus der Vorstadt, dessen Traum vom Leben als Fußball-Profi platzt, wird schließlich Cheftrainer seines Lieblingsklubs. „Unglaublich“, sagt Marco Castiglione, der Fußball-Abteilungsleiter des TV Jahn. „Dass wir als Breitensportverein den Trainer eines Bundesligisten hervorgebracht haben, ist eine riesige Ehre und natürlich momentan ein großes Thema bei uns.“
Wenn auf dem Jahn-Platz am Brendelweg in diesen Tagen mal wieder über Florian Kohfeldt gesprochen wird, erzählt Reinhard Schumacher gerne die Geschichte von der Mappe, die noch eine Pointe bereithält. Im Mai 2015 lud Kohfeldt, damals Assistent von Viktor Skripnik, seine Jugendtrainer Schumacher und Pospich zum Werder-Heimspiel gegen Frankfurt ein. Nach dem 1:0-Sieg führte er sie durch die Katakomben des Weserstadions. „Das war ganz toll“, schwärmt Schumacher, der ein besonderes Dankeschön mitgebracht hatte. Er gab Kohfeldt die handgeschriebenen Zettel mit Aufstellungen und Trainingsplänen zurück. Zusammengebunden waren sie mit einem violetten Band, passend zur Vereinsfarbe des TV Jahn Delmenhorst. So wie der Jugendtrainer einst gestaunt hatte, wunderte sich nun Florian Kohfeldt. „Er konnte gar nicht glauben, dass ich die ,Kladde‘ 20 Jahre lang aufbewahrt hatte“, sagt Schumacher und grinst zufrieden.